Sheylah und die Zwillingsschluessel
und kam sich allmählich wie in einem Horrorzoo vor. Was gibt es noch für exotische Tierarten zu entdecken?, scherzte sie, um sich die Angst zu nehmen. Doch es funktionierte nicht. Sie kamen an einer Gruppe knochendürrer unnatürlich weißer Menschen vorbei, die Sheylah zuerst für Sklaven hielt. Und vielleicht waren sie das früher einmal gewesen, doch nun waren sie lebende Leichen. Durch ihre hauchdünne Haut schimmerten die Knochen, ihre Gesichter waren fast bis zur Unkenntlichkeit verfault und der Gestank war beinahe unerträglich. Die Leichen standen in einem Kreis, den Außenstehenden den Rücken zugekehrt. Es war absurd, aber es hatte fast den Anschein, als berieten sie sich, wie eine Fußballmannschaft in der Halbzeit. Sheylah schüttelte sich, wandte den Blick ab und schaute plötzlich in nachtschwarze Augen. Sie gehörten einem schwarzen Gesicht mit ebenso tiefschwarzem Haar. Das Wesen war so vollkommen schwarz, dass Sheylah Mühe hatte, es überhaupt zu erkennen. Es war unmittelbar vor ihr, ein gutes Stück größer als sie und roch nach faulem Fleisch und Blut. An seinem Mundwinkel hing ein winziger Blutstropfen und das war das Einzige an ihm, das nicht dunkel war. Sheylah konnte nicht sagen, ob es sich um ein männliches oder weibliches Wesen handelte, aber es hatte in etwa das Äußere eines Menschen. Seine Arme waren ein wenig lang und der Kopf zu sehr gestreckt, doch es war definitiv ein menschenartiges Wesen. Ihr Blick blieb an den spitzen Ohren hängen. „Ist das eine Elfe?“, fragte Sheylah voller Bewunderung und Ehrfurcht zugleich. Marces zog sie außer Reichweite des Wesens und antwortete ebenso ehrfürchtig: „Das ist ein Schattenelf, das genaue Gegenteil seiner liebreizenden Artverwandten. Sie fressen Menschenfleisch, aber wir beide stehen nicht auf der Speisekarte.“ Und etwas lauter an den Schattenelf gewandt: „Befehl von Morthon!“ „Schade“, antwortete dieser und Sheylah zuckte zusammen. Er konnte sprechen, also höchstwahrscheinlich auch denken wie ein Mensch und trotzdem fraß er sie! Sie hatte noch nie etwas Gruseligeres gesehen, dachte sie zumindest, wurde aber eines Besseren belehrt, als sie sich ein Stück entfernten. Sheylah fragte sich kurz, wie viel Entsetzen und Ekel ein Mensch ertragen konnte, eh er durchdrehte. Als sie das nächste Geschöpf sah, war sie definitiv an der Grenze des Erträglichen. Es war ein Wesen, wie es nur einem Alptraum entsprungen sein konnte, denn es bestand aus nichts weiter als Köpfen und Gliedmaßen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Marces Augen kurz vor Entsetzen weiteten. Offenbar hatte er selbst noch nicht alle Haustiere von Morthon kennengelernt.
Sheylah erblickte mehrere weibliche und männliche Köpfe. Sie standen in alle Himmelsrichtungen ab, waren schwarz, weiß und grau. Die Gliedmaßen hingen wahllos in der Gegend herum und das Wesen hinkte, wenn es sich bewegte. Mit fünf unterschiedlich langen Beinen war das Fortbewegen sicherlich nicht einfach. Das hätte Sheylah vielleicht noch alles ertragen, aber nicht das Kindergesicht eines vielleicht neun Jahre alten Mädchens, das zwischen den Köpfen hervorlugte. Während die anderen Köpfe ausdruckslos oder wild verzerrt waren, war das des Kindes traurig, so, als wäre es sich seiner Lage bewusst. Das war zu viel. Mit einem erstickten Schrei fiel Sheylah auf die Knie und erbrach sich. Dafür würde sie Morthon töten! Sie sah zu Marces hoch, der blass geworden war. Kurz sah sie eine Gefühlsregung in seinen Augen aufflackern und fragte sich, ob er langsam Zweifel bekam. „Steh auf, wir müssen weiter“, sagte er jedoch nur. Sheylah rappelte sich auf, ließ den Kopf aber für den Rest des Weges gesenkt. Irgendwann ließen sie die Monster hinter sich und begegneten nur noch vereinzelten Skintii-Kriegern und nach einer Weile traute sich Sheylah auch wieder, den Kopf zu heben und sich umzusehen. Marces führte sie zum Eingang einer großen Höhle und blieb davor stehen. „Wir sind da“, sagte er und die beiden Höllenhunde Vektor und Hektor nahmen zu jeder Seite des Eingangs Platz. „Er wohnt in einer Höhle?, fragte Sheylah ungläubig. Marces antwortete nicht, sondern stieß sie grob hinein und einen kurzen Moment zögerte Sheylah. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Sie hätte versuchen sollen, Marces zu töten und zu ihren Freunden zu flüchten. Was, wenn Isaak Andrey nicht erreichte und dieser nie herausfand, dass sie in Guanell war? Wer würde sie dann retten? Niemand,
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