Sheylah und die Zwillingsschluessel
vorkam. „Wie ich sehe, überrascht dich, was du siehst, liebste Urgroßnichte.“ Sheylah fehlten die Worte, sie war zu sehr damit beschäftigt, ihn sich als Herrscher der Finsternis vorzustellen – es gelang ihr nicht. In geringem Abstand zu ihr blieb Morthon stehen und musterte sie ebenfalls. Er war eher schmächtig gebaut und nicht viel größer als sie und doch strahlte er etwas Dunkles aus. „Du bist das Ebenbild meiner Schwester Zizilia. Ich konnte es erst gar nicht glauben, dass du ihre Urenkelin bist, aber es scheint so.“ „Du hast sie ermordet“, zischte Sheylah. „Genau wie den Rest unserer Familie.“ Morthon machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich tat, was nötig war, um zu überleben.“ Sein lässiger Tonfall machte Sheylah wütend. „Um zu überleben?“, wiederholte sie und konnte sich kaum noch zurückhalten. Am liebsten wäre sie ihm sofort an die Gurgel gesprungen, aus Gründen, die sie sich jedoch nicht erklären konnte, tat sie es nicht. „Du weißt nicht, was mir angetan wurde“. Plötzlich verhärteten sich seine Gesichtszüge und er sah alles andere als harmlos aus. Instinktiv wich Sheylah zurück, blieb aber stehen, als ihr bewusst wurde, dass er es als Zeichen von Schwäche ansehen könnte. „Wenn du damit meinst, dass dein Vater sämtliche Heiler herbeischaffen ließ, um dich zu retten, war das eine ungewöhnliche Art, es ihm zu danken“, sagte sie stattdessen. „Sprich nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst“, antwortete er und seine Stimme gewann an Härte. „Man hat mich gefoltert, um mir das Böse auszutreiben und als es nicht funktioniert hat, haben sie mich verbrannt, aufgespießt und zerstückelt, doch nichts von dem vermochte mich zu töten. Erst als es keinen anderen Ausweg mehr gab, hat mich mein geliebter Vater hierher verbannt, weil er Angst davor hatte, was aus mir geworden war.
Deshalb bin ich nach Torga zurückgekehrt, um ihn zu töten, ihn dafür büßen zu lassen, aber er war mir zuvor gekommen, indem er sich selbst tötete, dieser Feigling.“ „Du lügst“, sagte Sheylah. „König Thoren ist gestorben, weil er krank vor Sorge und Trauer war.“ „Das hat man dir erzählt?“, fragte Morthon und in seinen Augen veränderte sich etwas. Sheylah konnte sehen, dass sich eine Leere darin ausbreitete, die vorher nicht da gewesen war. „Aros hat es mir gesagt“, antwortete sie trotzig. Sie würde ihm kein Wort glauben. Morthon tat, als überlegte er einen Moment, dann strich er sich übers Kinn. „Ah, Aros, der Wächter des alten Königreiches. Ich frage mich, wie er sich so sicher sein kann, wenn er zu dieser Zeit noch ein Kind gewesen ist?“ „Es wurde ihm so übermittelt“, sagte Sheylah und wich ein Stück zurück. Er sah es und ein triumphierendes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Weil du dir den weiten Weg gemacht hast, um mir Tarem auszuhändigen, werde ich dir die Wahrheit erzählen.“ Sheylah wurde nervös, denn das Gespräch neigte sich zu schnell dem Ende zu. War es in Filmen nicht immer so, dass die Bösen einem die Wahrheit erzählten und dann umbrachten? So wie es jetzt lief, wäre ihr Leben bald verwirkt. Sie musste das Gespräch am Laufen halten. „Mein verehrter Vater ist nicht vor Kummer gestorben, er hat sich vergiftet, weil er wusste, dass ich kommen würde, um ihn zu töten. Als ich dann tatsächlich zurückkehrte, war er schon begraben worden. Ich bin in seine Grabkammer eingedrungen, um mich davon zu überzeugen, dass er wirklich tot war. Ich konnte noch das Gift an ihm riechen.“ Sheylah sagte nichts, sie zermarterte sich das Hirn darüber, wie sie noch ein paar Minuten herausschlagen konnte. „Sag mir, Sheylah, bist du jemals an den Gräbern deiner Vorfahren gewesen?“, fragte er und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Du meinst von Thoren und Zizilia? Nein, warum?“
„Du hast also nie das Verlangen verspürt, sie zu besuchen?“, fragte er und klang mehr als misstrauisch. „Nein.“ Sheylah war verwirrt, denn sie konnte sich nicht erklären, warum das so von Bedeutung war. Er schaute sie durchdringend an, als versuche er herauszufinden, ob sie lügt. Dabei wechselte seine Augenfarbe von hellblau in schwarz. Offenbar war seine Augenfarbe von Stimmung zu Stimmung unterschiedlich. Sheylah versuchte keine Angst zu zeigen und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. „Wo ist die Truhe von Guanell?“, fragte sie. Morthon schien erst überrascht, dann lachte er so laut, dass die Wände
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