Shibumi: Thriller (German Edition)
Stimmen, die Europas älteste Sprache sprachen – das alles war unterschiedslos miteinander verschmolzen. Die es erlebte, war eine andere, eine, für die sie tiefstes Mitleid empfand, der sie aber nicht helfen konnte; eine, für die jede Hilfe zu spät kam.
Nach dem Massaker auf dem Internationalen Flughafen von Rom war sie irgendwie aus Italien heraus und zu diesem Café in einem baskischen Marktflecken gelangt. Betäubt, wie abwesend, hatte sie in neun Stunden eintausendfünfhundert Kilometer zurückgelegt. Doch nun, da nur noch vier bis fünf weitere Kilometer vor ihr lagen, hatte sie ihre letzten Nervenkräfte verbraucht. Ihre Adrenalinreserven waren erschöpft, und es schien, als müsse sie hier in letzter Minute vor den Launen eines wichtigtuerischen Cafébesitzers kapitulieren.
Zuerst, als sie hatte zusehen müssen, wie ihre Kameraden abgeknallt wurden, war sie von Entsetzen und Fassungslosigkeit gepackt worden, von einer neurasthenischen Verwirrung, die bewirkte, dass sie wie erstarrt stehen blieb, während die Menschen an ihr vorbeihasteten, sie beinahe umrannten. Immer wieder Schüsse. Lautes Jammern der italienischen Familie, die einen Verwandten erwartete. Dann war sie in Panik geraten; blindlings hatte sie sich in Bewegung gesetzt, auf den Haupteingang des Flughafens, auf den warmen Sonnenschein zu. Keuchend, in flachen Stößen atmete sie durch den Mund. Polizisten liefen an ihr vorbei. Sie zwang sich weiterzugehen. Dann merkte sie, dass sich ihre Rückenmuskeln in Erwartung der Kugel, die nicht kam, schmerzhaft verkrampften. Sie kam an einem alten Mann mit weißem Spitzbart vorbei, der wie ein spielendes Kind mit ausgestreckten Beinen auf dem Fußboden saß. Eine Wunde war nicht zu sehen, aber die dunkle Blutlache, in der er hockte, wurde langsam immer größer. Er schien keine Schmerzen zu leiden, schaute nur fragend zu ihr empor. Sie brachte es nicht über sich, stehen zu bleiben. Als sie weiterging, trafen sich ihre Blicke. Sinnlos murmelte sie vor sich hin: »Verzeihung. Ich bitte Sie um Verzeihung.«
Eine dicke Frau aus der wartenden Familie war hysterisch geworden; sie klagte und schluchzte hemmungslos. Dabei widmete man ihr mehr Aufmerksamkeit als den verwundeten Familienmitgliedern. Sie war schließlich la Mamma.
Inmitten all dieses Durcheinanders, des Rennens und Schreiens, meldete sich eine ruhige, monotone Stimme mit dem ersten Aufruf für die Passagiere des Air-France-Fluges 470 nach Toulouse, Tarbes und Pau. Die Tonbandsprecherin ahnte nichts von dem Chaos unterhalb der Lautsprecher. Als die Ansage auf Französisch wiederholt wurde, blieben die letzten Worte in Hannahs Bewusstsein haften. Flugsteig elf. Flugsteig elf.
Die Stewardess ermahnte Hannah, ihre Sessellehne senkrecht zu stellen. »Ach ja. Verzeihung.« Als sie nach einer Minute wiederkam, bat sie Hannah, den Sicherheitsgurt anzulegen. »Was? Ach ja. Verzeihung.«
Die Maschine stieg in die dünne Wolkendecke hinauf und weiter ins frische, unendliche Blau. Die Motoren dröhnten; der Rumpf vibrierte. Hannah erschauerte vor Hilflosigkeit und Verlassenheit. Neben ihr saß ein Mann mittleren Alters, der in einer Zeitschrift blätterte. Von Zeit zu Zeit wanderte sein Blick über den Rand des Magazins hinweg zu ihren sonnengebräunten Beinen unter den kurzen Khakihosen. Sie spürte seinen Blick und schloss die beiden obersten Blusenknöpfe. Der Mann lächelte und räusperte sich. Gleich würde er sie ansprechen! Dieser Scheißkerl wollte mit ihr flirten! O Gott!
Und plötzlich wurde ihr schlecht.
Sie schaffte es noch bis zur Toilette, wo sie in dem engen Raum niederkniete und sich in die Klosettschüssel übergab. Als sie, bleich und erschöpft, den Abdruck der Fliesen auf ihren Knien, wieder herauskam, gab die Stewardess sich fürsorglich, aber ein wenig überheblich, weil sie annahm, sie habe Flugangst.
Beim Anflug auf Pau zog die Maschine eine Schleife, und Hannah sah durchs Fenster das Panorama der schneebedeckten Pyrenäen, die sich scharf gegen die kristallklare Luft abzeichneten wie ein Meer im Sturm gefrorener Schaumkronen, wunderschön und majestätisch.
Irgendwo dort unten, auf der baskischen Seite der Gebirgskette, lebte Nikolai Hel. Wenn sie nur Mr. Hel erreichen könnte …
Erst als sie den Flugplatz verlassen hatte und draußen in der kühlen Luft stand, fiel ihr ein, dass sie kein Geld hatte. Das Geld hatte Avrim bei sich getragen. Sie würde per Anhalter reisen müssen, und dabei kannte sie nicht einmal den
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