Shibumi: Thriller (German Edition)
Stühle verkürzt worden und jetzt etwas zu hoch für de Lhandes und etwas zu niedrig für seine seltenen Gäste. Doch das, so hatte de Lhandes einmal zu Hel gesagt, sei ja das Wesen des Kompromisses: ein Zustand, der niemanden ganz zufriedenstellt, der aber jedem das beruhigende Gefühl verleiht, der andere sei ebenfalls benachteiligt.
Die Mahlzeit war fast beendet, und nun ruhten und plauderten sie zwischen den letzten Gängen. Es hatte Newa-Kaviar mit heißen, in Servietten servierten Blinis gegeben, Saint-Germain-Royal (an dem de Lhandes eine Spur zu viel Minze kritisierte), Suprême de Sole aus Château Yquem, Wachteln in Asche (de Lhandes meinte, Walnussholz wäre bestimmt besser für das Feuer gewesen, das Aroma der Eichenspäne sei jedoch auch akzeptabel), Lammrücken à la Edward VII . (de Lhandes bedauerte, dass er nicht kalt genug sei, räumte aber ein, dass Hels Vorkehrungen ein wenig überstürzt erfolgt waren), Riz à la Grecque (die Spur zu viel roten Pfeffers schrieb de Lhandes dem Geburtsort des Küchenchefs zu), Morcheln (die Spur zu wenig Zitronensaft schrieb de Lhandes dem Charakter des Küchenchefs zu), florentinische Artischockenböden (die krasse Unausgewogenheit von Gruyère und Parmesan in der Sauce Mornay schrieb de Lhandes dem Starrsinn des Küchenchefs zu, denn man hatte ihn früher schon auf diesen Fehler hingewiesen) und Salat Danitschew (den de Lhandes zu seiner leichten Verärgerung perfekt fand).
Von jedem Gang kostete de Lhandes nur die winzigsten Bissen, die es ihm gerade noch gestatteten, das Zusammenspiel der einzelnen Geschmacksnuancen am Gaumen zu genießen. Denn sein Herz, seine Leber und das Verdauungssystem waren derart ruiniert, dass der Arzt ihm nur völlig ungewürzte Speisen gestattete. Hel aß schon aus Gewohnheit sehr wenig. Und Mademoiselle Pinards Appetit war zwar gut, doch ihre Auffassung von erlesenen Tischmanieren gestattete ihr nur kleine Häppchen, an denen sie endlos mit mahlenden Bewegungen der Vorderzähne mümmelte wie ein Kaninchen, während sie sich mit der Serviette häufig und geziert die schmalen Lippen betupfte. Ein Grund dafür, dass der Chef des Cafés zum Walfisch ab und zu so bereitwillig ein großes Essen für Monsieur Hel zubereitete, war das üppige Festmahl, an dem sich seine Familie und seine Freunde stets später an einem solchen Abend delektieren durften.
»Es ist eine Schande, wie wenig wir essen, Nikolai«, sagte de Lhandes mit seiner erstaunlich tiefen Stimme. »Du mit deiner mönchischen Einstellung zum Essen, und ich mit meiner ruinierten Gesundheit! Wenn ich so in den Speisen herumstochere, komme ich mir vor wie ein stinkreicher Zehnjähriger in einem Luxusbordell.«
Mademoiselle Pinard verschwand sekundenlang hinter ihrer Serviette.
»Und diese Fingerhüte voll Wein!«, klagte de Lhandes. »Oh Gott, dass ich so tief gesunken bin! Ich, ein Mann, der dank Wissen und Geld die Völlerei zur großen Kunst erhoben hatte! Das Schicksal ist entweder ironisch oder gerecht, ich weiß es nicht. Aber sieh mich an! Ich esse, als wäre ich eine blutleere Nonne, die ihre Träume vom jungen Curé büßen muss!«
Die Serviette verbarg Mademoiselle Pinards Erröten.
»Wie krank bist du wirklich, alter Freund?«, erkundigte sich Hel. Offenheit war eine alte Gewohnheit zwischen ihnen.
»Todkrank. Mein Herz gleicht eher einem Schwamm als einer Pumpe. Ich habe mich jetzt seit – wie lange? – fünf Jahren zurückgezogen. Und von diesen fünf Jahren habe ich vier der lieben Mademoiselle Pinard nicht mehr von Nutzen sein können – es sei denn, als Zuschauer natürlich.«
Die Serviette.
Den Abschluss des Dinners bildeten eine Eisbombe, Früchte, glaces variée s – kein Cognac, keine Digestifs –, dann zog sich Mademoiselle Pinard zurück, damit die Herren sich ungestört unterhalten konnten.
De Lhandes rutschte von seinem Stuhl herunter und begab sich – zweimal innehaltend, um Atem zu schöpfen – zum Kamin, wo er sich in einen niedrigen Sessel setzte, der ihn nichtsdestoweniger zwang, die Beine lang auf den Sitz zu strecken.
»Für mich sind alle Sessel chaises-longues, mein Freund.« Er lachte. »Also gut. Was kann ich für dich tun?«
»Ich brauche Hilfe.«
»Selbstverständlich. Obwohl wir gute Kameraden sind, würdest du nicht mitten in der Nacht mit einem Boot angefahren kommen, nur um ein Dinner zu schmähen, indem du mit der Gabel darin herumstocherst. Wie du weißt, habe ich mich seit mehreren Jahren aus dem
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