Shibumi: Thriller (German Edition)
Auseinandersetzungen miteinander geteilt haben, nicht zwölf Stunden ehrlicher Anteilnahme rühmen. Und so kenne ich dich einen Tag, mein Freund, und habe dich lieben gelernt. Ich muss mich selber sehr dafür loben, denn es ist nicht leicht, dich zu lieben. Bewundern? Ja, natürlich. Respektieren? Wenn die Angst ein Bestandteil des Respektes ist, dann selbstverständlich. Aber lieben? Das ist etwas ganz anderes, weil die Liebe nämlich den Wunsch zur Vergebung birgt, und es ist sehr schwer, dir zu vergeben. Halb heiliger Asket, halb Vandale und Marodeur, bietest du dich der Vergebung einfach nicht an. In der einen Gestalt stehst du über ihr, in der anderen darunter. Und du verachtest sie in jedem Fall. Ja, man hat sogar das Gefühl, du würdest einem Menschen, der dir vergibt, niemals vergeben. – Das bedeutet möglicherweise nicht viel, aber es rollt so schön von der Zunge, und ein Lied besteht nun einmal aus Text und Melodie. – Und nachdem ich dich zwölf Stunden lang kenne, wage ich es, dich zu komprimieren, auf eine Definition zu reduzieren, und bezeichne dich als mittelalterlichen Antihelden.«
Hel lächelte. »Ein mittelalterlicher Antiheld? Was in aller Welt soll denn das sein?«
»Wer hat das Wort, du oder ich? Ich bitte mir ein bisschen schweigenden Respekt vor den Sterbenden aus. Es kommt zum Teil daher, dass du Japaner bist – kulturell gesehen, meine ich. Nur in Japan fiel die klassische Epoche mit der mittelalterlichen zusammen. Im Westen werden Philosophie, Kunst, politische und gesellschaftliche Ideale alle mit Perioden vor oder nach dem Mittelalter identifiziert – mit Ausnahme jener glanzvollen Steinbrücke zu Gott, der Kathedrale. Nur in Japan war das feudale Stadium zugleich auch das philosophische. Uns im Westen ist die Vorstellung des Kriegerpriesters, des Kriegerwissenschaftlers, ja sogar des Kriegerindustriellen geläufig. Aber der Kriegerphilosoph? Nein, diese Vorstellung stört unseren Sinn für das Konventionelle. Wir sprechen von ›Tod und Gewalttat‹, als wären die beiden zwei Manifestationen desselben Impulses. In Wirklichkeit ist der Tod gerade das Gegenteil der Gewalttat, die ja stets mit dem Kampf ums Leben verbunden ist. Unsere Philosophie konzentriert sich auf die Bewältigung des Lebens; eure auf die Bewältigung des Todes. Wir suchen Erkenntnis; ihr sucht Würde. Wir lernen festzuhalten; ihr lernt loszulassen. Sogar die Bezeichnung ›Philosoph‹ ist irreführend, denn unsere Philosophen sind stets von dem Bedürfnis geleitet worden, ihre Erkenntnisse mitzuteilen, ja, aufzudrängen; während die euren – möglicherweise aus selbstsüchtigen Impulsen – damit zufrieden waren, ihren separaten und privaten Frieden zu finden. Für den Okzidentalen liegt etwas beunruhigend Feminines in eurer Auffassung von Männlichkeit – im Sinne von yang-isch, falls diese Wortschöpfung dein Ohr nicht beleidigt. Kaum von den Schlachtfeldern zurück, legt ihr weiche Gewänder an und schlendert mit bewunderndem Mitgefühl für die fallende Kirschblüte durch eure Gärten; und ihr seht sowohl in der Sanftmut als auch in der Tapferkeit Manifestationen der Männlichkeit. Auf uns wirkt das zumindest kapriziös, wenn nicht gar heuchlerisch. Übrigens, was macht dein Garten?«
»Er macht sich.«
»Und das heißt?«
»Er wird mit jedem Jahr schlichter.«
»Da! Siehst du? Diese gottverdammte Neigung der Japaner zum Paradoxen, das sich als Syllogismus entpuppt! Sieh dich an! Ein Kriegergärtner! Du bist wahrhaftig ein mittelalterlicher Japaner, genau wie ich sagte. Und außerdem bist du ein Antiheld – nicht in dem Sinn, in dem Kritiker und Gelehrte, die danach gieren, Titel vor ihre Namen hängen zu dürfen, diese Bezeichnung benutzen und oft genug missbrauchen. Denn was die Antihelden nennen, sind doch in Wirklichkeit nur unglaubwürdige Helden oder attraktive Bösewichter – der dicke Polizist oder Richard III . Der wahre Antiheld hingegen ist eine Variation des Helden – nicht ein Clown mit einer Hauptrolle, auch kein Zuschauer, der seine gewalttätigen Fantasien ausleben darf. Sondern der Antiheld führt, wie der klassische Held, die Massen zur Erlösung. Es gab eine Zeit in der Komödie der menschlichen Entwicklung, da schien die Rettung in Richtung auf Ordnung und Organisation zu liegen, und so organisierten und führten alle großen Helden des Westens ihre Gefolgsleute gegen den Feind: das Chaos. Jetzt begreifen wir, dass der Erzfeind nicht das Chaos, sondern die Organisation,
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