Shibumi: Thriller (German Edition)
der Erfahrung und Intelligenz genug besitzt, sie richtig zu deuten. Und Nikolais Spiel, so brillant und wagemutig es auch sein mochte, barg den ästhetischen Makel der Gefühlskälte und einer beinahe unmenschlichen Konzentration auf das Ziel. Da er Nikolais Taktik studiert hatte, wusste Otake-san, dass sein Starschüler zu Ruhm gelangen und der erste Nichtjapaner werden konnte, der zu den höheren Dans emporstieg; aber er wusste ebenso, dass der Junge im weniger hochgeistigen Spiel des Lebens weder Ruhe noch Glück finden würde. Dass Nikko die Gabe besaß, sich in die mystische Entrückung zurückzuziehen, war ein Segen, ein Ausgleich. Aber es war auch ein Danaergeschenk.
Otake-san seufzte noch einmal auf und betrachtete das Mosaik der Steine. Ungefähr ein Drittel der Partie war beendet. »Ist es dir recht, Nikko, wenn wir jetzt nicht weiterspielen? Mein Magen macht mir wieder zu schaffen. Und die Entwicklung ist so klassisch, dass der Keim des Ergebnisses bereits Wurzel geschlagen hat. Ich glaube kaum, dass einer von uns noch einen schwerwiegenden Fehler begehen würde. Du etwa?«
»Nein, Meister.« Nikolai war froh, das Spielbrett und den kleinen Raum verlassen zu dürfen, in dem er zum ersten Mal gehört hatte, dass seine mystische Zuflucht nicht gegen alles gefeit war – dass etwas geschehen konnte, das ihm diesen wesentlichsten Teil seines Lebens entreißen würde. »Wie dem auch sei, Lehrer, ich glaube, Sie hätten um sieben oder acht Steine gewonnen.«
Otake-san warf einen letzten Blick auf das Brett. »Um so viele? Ich hätte eigentlich eher gedacht, es wären höchstens fünf oder sechs.« Lächelnd sah er Nikko an. Das war ihre Art zu scherzen. In Wirklichkeit hätte Otake-san um mindestens ein Dutzend Steine gewonnen, und sie wussten es beide.
Die Jahre vergingen, und die Jahreszeiten wechselten friedlich im Hause der Otakes, wo überlieferte Rollen, Loyalität, harte Arbeit und fleißiges Lernen durch Spiel, Übermut und Zuneigung aufgewogen wurden, wobei Letzterer es dadurch, dass man sie weitgehend geheim hielt, keineswegs an Aufrichtigkeit mangelte.
Selbst in ihrem kleinen Gebirgsdorf, wo das Leben im Rhythmus von Säen und Ernten verlief, bildete der Krieg eine stete Hintergrundmusik. Junge Männer, die jedermann kannte, gingen zum Militär, und einige von ihnen kehrten nie wieder zurück. Einschränkungen und noch härtere Arbeit wurden zum täglichen Brot der Daheimgebliebenen. Große Aufregung entstand, als am 8. Dezember 1941 die Nachricht vom Überfall auf Pearl Harbor kam; erfahrene Männer waren sich einig darin, dass der Krieg höchstens ein Jahr dauern würde. Sieg um Sieg wurde von begeisterten Stimmen über den Rundfunk verkündet, als die Armee den europäischen Imperialismus aus dem Pazifik vertrieb.
Dennoch murrten einige Bauern insgeheim über die unerträglich hohen Abgabequoten, die ihnen auferlegt wurden, und man spürte den zunehmenden Mangel an Konsumgütern. Otake-san beschäftigte sich jetzt hauptsächlich mit dem Verfassen von Kommentaren, denn als patriotische Reaktion auf den allgemeinen Ernst der Lage waren die Go-Turniere zahlenmäßig eingeschränkt worden. Gelegentlich berührte der Krieg den Otake-Haushalt auch etwas unmittelbarer. An einem Winterabend kam der mittlere Sohn der Familie zerknirscht und zutiefst beschämt nach Hause, weil er von seinen Klassenkameraden als yowamushi, als schwächlicher Wurm, verspottet worden war: Während der anstrengenden nachmittäglichen Freiübungen, bei denen alle Jungen auf dem schneebedeckten Schulhof nackt bis zur Taille turnen mussten, um physische Härte und »Samurai-Geist« zu beweisen, hatte er Fausthandschuhe an den empfindlichen Händen getragen.
Und Nikolai hörte von Zeit zu Zeit, dass man ihn als Fremden, als gaijin , als Rotkopf bezeichnete, und zwar in einem Ton, dessen misstrauischer Beigeschmack den von chauvinistischen Lehrern gepredigten Fremdenhass spiegelte. Im Grunde hatte er jedoch kaum unter seinem Außenseiterstatus zu leiden. General Kishikawa hatte dafür gesorgt, dass in seinen Papieren die Mutter als Russin (neutral) und der Vater als Deutscher (Verbündeter) ausgewiesen wurde. Außerdem stand Nikolai unter dem Schutz des Respekts, den man im Dorf für Otake-san hegte, den berühmten Go-Spieler, der dem Dorf die Ehre erwiesen hatte, es zu seinem Wohnsitz zu erwählen.
Als Nikolais Spielkunst so große Fortschritte gemacht hatte, dass er an Vorrunden teilnehmen und Otake-san als Schüler zu den
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