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Shibumi: Thriller (German Edition)

Shibumi: Thriller (German Edition)

Titel: Shibumi: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevanian
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… das man einfach nicht beschreibt.«
    »Nein, du hast es sehr gut beschrieben, Nikko. Du hast in mir eine Erinnerung geweckt, die ich beinahe verloren hatte. Ein- oder zweimal als Kind – im Sommer, glaube ich – habe auch ich eine kurze Entrückung erlebt. Ich habe einmal gelesen, dass die meisten Menschen als Kinder zuweilen ein mystisches Erlebnis haben, dieser Zeit aber schon bald entwachsen. Und sie vergessen. Würdest du mir noch etwas erklären? Wie kommt es, dass du Go spielen kannst, während du entrückt bist, während du auf der Wiese weilst?«
    »Also, ich bin hier und dort gleichzeitig. Ich entferne mich, aber ich gehe nicht weg. Ich bin Teil dieses Zimmers und des Gartens.«
    »Und ich, Nikko? Bist du auch Teil von mir?«
    Nikko schüttelte den Kopf. »An meinem Ruheplatz gibt es keine Lebewesen. Ich bin das einzige Wesen, das sehen kann. Ich sehe für uns alle, für das Sonnenlicht, für das Gras.«
    »Aha. Und wie kannst du deine Steine setzen, ohne auf das Brett zu schauen? Woher weißt du, wo sich die Linien kreuzen? Woher weißt du, wo ich meinen letzten Stein platziert habe?«
    Nikolai zuckte mit den Achseln. Das war zu offensichtlich, um erst erklärt werden zu müssen. »Ich bin Teil von allem, Lehrer. Ich teile … nein … Ich fließe mit allem. Mit dem Go -ban, mit den Steinen. Das Brett und ich sind einer im anderen. Wie sollte ich da das Spielmuster nicht kennen?«
    »Du siehst also vom Inneren des Brettes aus?«
    »Innen und außen sind dasselbe. Aber ›sehen‹ ist auch nicht ganz richtig. Wenn man überall ist, braucht man nicht zu ›sehen‹.« Nikolai schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht erklären.«
    Otake-san drückte ganz leicht Nikolais Arm, dann zog er seine Hand zurück. »Ich will dich nicht weiter ausfragen. Ich muss gestehen, dass ich dich um den mystischen Frieden, den du findest, beneide. Vor allem beneide ich dich darum, dass du deine Gabe so natürlich findest – ohne die Konzentration und die Übungen, die selbst heilige Männer bei der Suche danach aufwenden müssen. Aber wenn ich dich auch beneide, so habe ich doch auch Angst um dich. Wenn die Ekstase – wie ich es vermute – zu einem natürlichen und notwendigen Teil deines Innenlebens geworden ist, was soll dann aus dir werden, wenn diese Gabe einmal nachlässt, wenn dir diese Erlebnisse versagt werden?«
    »Dass das geschieht, Lehrer, kann ich mir nicht vorstellen.«
    »Ich weiß. Aber aus meiner Lektüre habe ich gelernt, dass diese Gabe verschwinden und man den Weg zur inneren Ruhe verlieren kann. Irgendetwas kann geschehen, das dich mit grenzenlosem, nie nachlassendem Hass erfüllt oder mit Angst, und dann verschwindet die Gabe plötzlich.«
    Die Vorstellung, er könnte die natürlichste und wichtigste psychische Funktion seines Lebens verlieren, versetzte Nikolai in Unruhe. Von einer Welle der Panik ergriffen, erkannte er, dass schon die Angst, sie zu verlieren, den Verlust bewirken könnte. Er wollte weg von diesem Gespräch, weg von diesen neuen und unbegreiflichen Zweifeln. Er senkte den Blick auf das Go -ban, überlegte, wie er auf einen solchen Verlust reagieren würde.
    »Was würdest du tun, Nikko?«, fragte Otake-san nach kurzem Schweigen.
    Nikolai hob den Blick vom Spielbrett; seine grünen Augen waren ruhig und ausdruckslos. »Wenn mir jemand meine Ruhepausen nähme – ich würde ihn töten.«
    Das sagte er mit einer fatalistischen Gelassenheit, und Otake-san erkannte, dass kein Zorn, sondern die schlichte Wahrheit aus seinen Worten sprach. Die ruhige Sicherheit dieser Antwort war es, die Otake-san am stärksten beunruhigte.
    »Aber, Nikko, nehmen wir an, es sei kein Mensch, der dir diese Gabe wegnimmt. Nehmen wir an, es geschähe aufgrund einer Situation, eines Ereignisses, eines Lebensumstandes. Was tätest du dann?«
    »Ich würde versuchen, die Ursache zu vernichten, ganz gleich, was es ist. Ich würde sie strafen.«
    »Würde dir das den Weg zur Ruhe wieder öffnen?«
    »Ich weiß es nicht, Lehrer. Aber es wäre die mindeste Rache, die ich für einen so schweren Verlust üben könnte.«
    Otake-san seufzte, teils aus Kummer über diese ganz besondere Schwäche Nikkos, teils aus Mitleid mit dem, der eines Tages die Schuld am Verlust seiner Gabe tragen würde. Er bezweifelte nicht im Geringsten, dass der junge Mann tun würde, was er gesagt hatte. Nirgends verrät sich die Persönlichkeit eines Menschen so deutlich wie beim Go-Spiel, wenn seine Taktik von jemandem interpretiert wird,

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