Shibumi: Thriller (German Edition)
Russen, sobald wir so schwach sind, dass sie ohne Risiko am Krieg – und damit am Sieg – teilnehmen können. Dass von den Kommunisten gefangen genommene Stabsoffiziere am Leben bleiben werden, ist unwahrscheinlich. Viele wollen lieber seppuku begehen, als die Schmach der Kapitulation auf sich zu nehmen. Ich habe beschlossen, ebenfalls diesen Weg einzuschlagen – aber nicht, weil ich der Schande entgehen will. Meine Teilnahme an diesem bestialischen Krieg hat mich – und ich fürchte, alle anderen Soldaten auch – so sehr entehrt, dass seppuku mich nicht mehr zu reinigen vermag. Doch selbst wenn diese Handlung meine Ehre nicht wiederherstellen kann, so birgt sie doch wenigstens … Würde. Ich bin während dieser letzten drei Tage, während wir hier unter den Kirschbäumen wandelten, zu diesem Entschluss gekommen. Vor einer Woche, solange meine Tochter und mein Enkel als Geiseln des Schicksals festgehalten wurden, fühlte ich mich noch nicht frei, mich auf diese Weise vor der Schande zu bewahren. Jetzt aber … jetzt haben mich die Umstände befreit. Es tut mir leid, dich den Stürmen des Zufalls überlassen zu müssen, Nikko, denn du warst mir wie ein Sohn. Aber …«, Kishikawa-san seufzte tief auf, »aber ich sehe keine Möglichkeit, dich vor dem, was auf dich zukommt, zu beschützen. Ein entehrter, besiegter alter Soldat würde kein Schutz und Schirm für dich sein. Du bist weder Japaner noch Europäer. Ich bezweifle, ob dich überhaupt jemand schützen kann. Und weil ich dir nicht helfen kann, wenn ich bleibe, fühle ich mich frei zu gehen. Hast du Verständnis dafür, Nikko? Und gibst du mir deine Zustimmung?«
Nikolai starrte lange in die Stromschnellen und suchte nach der richtigen Antwort. »Ihr Rat und Ihre Zuneigung werden mich immer begleiten. Auf diese Weise können Sie mich niemals wirklich verlassen.«
Die Ellbogen aufs Brückengeländer gestützt, blickte der General in das geisterhafte Schimmern der Gischt hinab und nickte bedächtig.
Die letzten Wochen im Hause der Otakes waren eine traurige Zeit. Nicht wegen der Gerüchte von Rückschlägen und Niederlagen, die sich von allen Seiten mehrten; auch nicht wegen der Lebensmittelknappheit und des schlechten Wetters, die zusammen bewirkten, dass der Hunger zum steten Begleiter wurde; sondern weil Otake vom Siebten Dan im Sterben lag. Seit Jahren hatte die Anspannung des professionellen Spielens auf höchstem Niveau sich in immerwährenden Magenkrämpfen bemerkbar gemacht, die er mit seinen Pfefferminzdrops linderte; doch dann wurden die Schmerzen immer schlimmer, und schließlich diagnostizierte man Magenkrebs.
Als sie erfuhren, dass Otake-san im Sterben lag, beendeten Nikolai und Mariko ihre Affäre ohne ein Wort darüber zu verlieren und ganz selbstverständlich. Die Last unerklärlicher Scham, die allen heranwachsenden Japanern eigen ist, verbot es ihnen, sich einer so lebensvollen Aktivität wie der Liebe hinzugeben, während ihr Lehrer und Freund dem Tode nahe war.
Einer jener Ironien des Lebens gemäß, die uns immer wieder in Erstaunen versetzen, obwohl doch die Erfahrung lehrt, dass die Ironie die verbreitetste Ausdrucksform des Schicksals ist, begannen die anderen Hausbewohner sie erst zu verdächtigen, als sie ihre körperliche Beziehung gelöst hatten. Solange sie in ihr gefährliches und aufregendes Liebesleben verstrickt waren, hatte die Angst vor Entdeckung sie in ihrem Verhalten zueinander in der Öffentlichkeit zu äußerster Vorsicht veranlasst. Sobald sie sich jedoch keiner beschämenden Handlung mehr schuldig fühlten, wagten sie mehr Zeit miteinander zu verbringen, miteinander durch die Straßen zu gehen oder draußen im Garten zu sitzen; und jetzt erst begann die Familie mit Seitenblicken und gehobenen Augenbrauen heimliche, wenn auch liebevolle Bemerkungen über sie auszutauschen.
Wenn sie ihr Übungsspiel ergebnislos abgebrochen hatten, unterhielten sie sich oft darüber, was wohl die Zukunft bringen würde, wenn der Krieg verloren und ihr geliebter Lehrer gestorben sei. Wie würde das Leben aussehen, wenn sie nicht mehr zum Otake-Haushalt gehörten, wenn amerikanische Soldaten das Land besetzten? Stimmte es, was sie gehört hatten, dass nämlich der Tenno sie aufrufen würde, in einem letzten Versuch, den Feind vor den Küsten Japans zurückzuschlagen, ihr Leben fürs Vaterland hinzugeben? Und würde der Tod nicht letztlich einem Leben unter der Barbarenherrschaft vorzuziehen sein?
Über solche Fragen diskutierten sie,
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