Shibumi: Thriller (German Edition)
Existenz – deines Gegners aber leugnest du. Hast du mir nicht selbst erzählt, dass du in deinen Phasen mystischer Entrückung, aus denen du Kraft und Ruhe gewinnst, ohne Beziehung zum Gegner spielst? Darin liegt etwas Diabolisches. Etwas grausam Überlegenes. Sogar Arrogantes. Etwas, das sich mit dem Ziel des shibumi nicht vereinbaren lässt. Ich mache dich nicht darauf aufmerksam, weil ich dich korrigieren und belehren will, Nikko. Denn diese Eigenschaften liegen in dir verankert und sind unveränderlich. Und ich weiß nicht einmal genau, ob ich dich ändern wollte, wenn ich es könnte; denn diese deine Fehler sind zugleich deine Stärken.«
»Sprechen wir nur vom Go-Spiel, Lehrer?«
»Wir sprechen in Ausdrücken des Go-Spiels.« Otake-san schob die Hand unter den Kimono und drückte sie fest auf seinen Magen, während er noch ein Pfefferminzbonbon nahm. »Bei all deiner Brillanz, mein lieber Schüler, bist du doch nicht unverwundbar. Da ist zum Beispiel dein Mangel an Erfahrung. Du verschwendest deine Konzentration auf die Lösung von Problemen, auf die ein erfahrenerer Spieler aufgrund von Gewohnheit und Erinnerung reagiert. Doch diese Schwäche ist nicht von Bedeutung. Erfahrung kannst du dir aneignen, wenn du alles Überflüssige sorgfältig vermeidest. Verfalle nicht in den Fehler des Handwerkers, der sich mit zwanzigjähriger Erfahrung in seinem Fach brüstet, während er in Wirklichkeit nur ein einziges Jahr Erfahrung gehabt hat – aber das zwanzig Mal. Und ärgere dich nicht über den Erfahrungsvorsprung, den ältere Menschen haben. Vergiss nicht, dass sie für diese Erfahrung in der Münze des Lebens zahlen und eine Börse leeren mussten, die nicht wieder gefüllt werden kann.« Otake-san lächelte schwach. »Und denke daran, dass die Alten möglichst viel aus ihrer Erfahrung machen müssen, weil sie alles ist, was ihnen noch bleibt.«
Eine Zeit lang war Otake-sans Blick matt und nach innen gekehrt, während er auf den Garten hinausstarrte, dessen Konturen im feinen Nebel verschwammen. Mit sichtlicher Anstrengung holte er seine Gedanken aus der Ewigkeit zurück, um seine letzte Lektion zu beenden. »Nein, nicht dein Mangel an Erfahrung ist dein größter Fehler, Nikko. Sondern dein Hochmut. Deine Niederlagen werden dir nicht von jenen beigebracht werden, die brillanter sind als du, sondern von den Geduldigen, den Schwerfälligen, den Mittelmäßigen.«
Nikolai runzelte die Stirn. Das passte zu dem, was Kishikawa-san ihm unter den Kirschbäumen am Kajikawa gesagt hatte.
»Deine Verachtung für alles Mittelmäßige macht dich blind für dessen ungeheure primitive Macht. Du bist geblendet von deiner eigenen Brillanz, unfähig, bis in die dunklen Winkel des Zimmers zu sehen, die Augen aufzumachen und die potenzielle Gefahr der Massen, der Masse Mensch zu erkennen. Sogar jetzt, während ich dir dies sage, mein lieber Schüler, kannst du einfach nicht daran glauben, dass mindere Menschen, ganz gleich, in welcher Zahl, dich wirklich und wahrhaftig besiegen könnten. Doch wir leben im Zeitalter des mittelmäßigen Menschen, der stumpf ist, farblos und langweilig – aber unfehlbar siegreich. Die Amöbe überlebt den Tiger, weil sie sich teilt und in ihrer unsterblichen Monotonie weiterexistiert. Die Massen sind die letzten Tyrannen. Sieh nur, wie in der Kunst Kabuki verblasst und No dahinwelkt, während populäre Romane von Gewalttätigkeit und geistlosen Taten den Verstand des Massenlesers überschwemmen! Und sogar in diesem zahmen Genre wagt es kein Autor, einen Mann zu ersinnen, der seinem durchschnittlichen Helden wirklich überlegen ist, denn in seinem Zorn über diese Schmach würde der Massenmensch seinen yojimbo, den Kritiker, ausschicken, um ihn zu verteidigen. Das Gebrüll der Schwerfälligen ist unverständlich, aber ohrenbetäubend. Sie haben kein Hirn, aber sie haben tausend Arme, um dich zu fangen, dich festzuhalten und zu sich herabzuziehen.«
»Sprechen wir immer noch von Go, Lehrer?«
»Ja. Und von seinem Schatten: dem Leben.«
»Welchen Rat geben Sie mir?«
»Meide den Kontakt mit den Mittelmäßigen. Tarne dich mit Höflichkeit. Gib dich unbeteiligt und distanziert. Lebe für dich allein und suche shibumi. Vor allem aber lass dich nicht zu Wut und Aggression gegen die Masse hinreißen. Tarne dich, Nikko.«
»General Kishikawa hat mir beinahe dasselbe gesagt.«
»Zweifellos. Wir haben an seinem letzten Abend hier lange über dich gesprochen. Keiner von uns konnte sich ein Bild davon
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