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Shibumi: Thriller (German Edition)

Shibumi: Thriller (German Edition)

Titel: Shibumi: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevanian
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als Otakes jüngster Sohn Nikolai eines Abends mitteilte, der Lehrer wünsche ihn zu sprechen. Otake-san erwartete ihn in seinem Sechs-Matten-Arbeitszimmer, dessen Schiebetüren auf den kleinen Garten mit dem dekorativ angepflanzten Gemüse hinausgingen. An diesem Abend wurden die grünen und braunen Töne draußen von einem ungesunden Nebel gedämpft, der von den Bergen herunterkam. Die Luft im Zimmer war feucht und kühl, und der süßliche Geruch faulender Blätter mischte sich mit dem köstlich kräftigen Aroma brennenden Holzes. Außerdem lag ein schwacher Duft von Pfefferminz in der Luft, denn Otake-san nahm immer noch seine Pfefferminzdrops, obwohl sie den Krebs nicht hatten hemmen können.
    »Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mich zu empfangen, Lehrer«, sagte Nikolai nach einigen Minuten des Schweigens. Der formelle Ton seiner Worte gefiel ihm nicht, aber er fand keinen Mittelweg zwischen der Zuneigung und dem Mitgefühl, die er empfand, und der ernsten Feierlichkeit, die diesem Augenblick innewohnte. Im Verlauf der letzten drei Tage hatte Otake-san mit jedem seiner Kinder und Studenten einzeln lange Gespräche geführt, und Nikolai, sein vielversprechendster Schüler, war der letzte.
    Otake-san deutete auf die Matte neben sich, und Nikolai kniete im rechten Winkel zu ihm nieder, in jener höflichen Position, die es gestattete, dass der Ältere im Gesicht des Jüngeren lesen konnte, während seine eigenen Züge unbeobachtet blieben. Voll Unbehagen über das lange Schweigen versuchte Nikolai es mit Banalitäten zu überbrücken. »Nebel von den Bergen ist ungewöhnlich um diese Jahreszeit, Lehrer. Manche behaupten, er ist ungesund, aber er verleiht dem Garten eine neue Schönheit, und den …«
    Otake-san hob die Hand und schüttelte ganz leicht den Kopf. Dazu war jetzt keine Zeit. »Ich will von der Großspiellage reden, Nikko, bin mir aber im Klaren darüber, dass meine Verallgemeinerungen durch die Erfordernisse lokal begrenzter Züge und Bedingungen eingeschränkt werden.«
    Nikolai nickte stumm. Es war Otake-sans Angewohnheit, immer, wenn es um etwas Wichtiges ging, in Go-Formeln zu sprechen. Wie General Kishikawa einmal gesagt hatte, war für den Lehrer das Leben eine vereinfachte Metapher für Go.
    »Wird dies eine Lektion werden, Lehrer?«
    »Nicht direkt.«
    »Dann eine Zurechtweisung?«
    »Es könnte dir so vorkommen. In Wirklichkeit ist es eine Kritik. Aber nicht nur an dir. Eine Kritik … Eine Analyse dessen, was in meinen Augen eine instabile und gefährliche Kombination darstellt: du und dein zukünftiges Leben. Beginnen wir mit der Feststellung, dass du ein brillanter Spieler bist.« Otake-san hob die Hand. »Nein! Bemühe dich nicht um höfliche Floskeln der Selbstverleugnung. Ich habe Spieler gekannt, die ebenso brillant waren wie du, aber noch nie einen in deinem Alter, und auch keinen, der noch lebt. Doch ein erfolgreicher Mensch hat andere Vorzüge als Brillanz, darum werde ich dich nicht mit unqualifizierten Komplimenten belasten. In deinem Spiel, Nikko, liegt etwas Beunruhigendes. Etwas Abstraktes, Unfreundliches. Dein Spiel ist irgendwie unorganisch … nicht lebendig. Es besitzt die Schönheit eines Kristalls, aber ihm fehlt die Schönheit einer Blüte.«
    Nikolais Ohren wurden rot, aber in seiner Miene waren weder Verlegenheit noch Zorn zu lesen. Strafen und Korrigieren sind das Recht, ja die Pflicht eines Lehrers.
    »Ich sage nicht, dass dein Spiel mechanisch und berechenbar wäre, denn das ist es selten. Das verhindert schon dein erstaunlicher …«
    Otake-san sog plötzlich den Atem ein und hielt ihn an, die Augen blicklos auf den Garten gerichtet. Nikolai hielt die Augen gesenkt, um seinen Lehrer nicht dadurch in Verlegenheit zu bringen, dass er seinen Kampf mit dem Schmerz beobachtete. Lange Sekunden verstrichen, und noch immer atmete Otake-san nicht weiter. Dann entließ er die Luft mit einem kleinen Keuchlaut aus der Kehle, wo er sie gewaltsam zurückgehalten hatte, und stieß sie ganz langsam aus, wobei er vorsichtig prüfte, ob sich der Schmerz nicht wieder einstellte. Als die Krise vorüber war, atmete er zweimal lange und dankbar durch den offenen Mund. Dann blinzelte er mehrmals und nahm den Faden wieder auf.
    »… Was dein Spiel davor bewahrt, mechanisch und berechenbar zu werden, ist dein erstaunlicher Wagemut, doch selbst dieser Zug wird von etwas Unmenschlichem beeinträchtigt. Du spielst nur gegen die Situation auf dem Spielbrett; die Bedeutung – ja, die

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