Shibumi: Thriller (German Edition)
ruckelnd über den Bildschirm des Ersten Assistenten. »Aha … Dieser Hel hat anscheinend mehrere Wohnsitze. Eine Wohnung in Paris, ein Haus an der dalmatinischen Küste, eine Sommervilla in Marokko, eine Wohnung in New York, eine weitere in London – ah, da haben wir’s! Letzter bekannter Wohnsitz ist ein Château im blutenden Dorf Etchebar. Das scheint sein Hauptwohnsitz zu sein, jedenfalls nach der Zeit zu urteilen, die er in den letzten fünfzehn Jahren dort verbracht hat.«
»Und wo liegt dieses Etchebar?«
»Äh … in den baskischen Pyrenäen, Sir.«
»Warum wird es als ›blutendes‹ Dorf bezeichnet?«
»Darüber habe ich mich auch schon gewundert, Sir.« Der Erste Assistent befragte den Computer und kicherte, als er die Antwort bekam. »Erstaunlich! Der arme Fat Boy hatte Schwierigkeiten beim Übersetzen vom Französischen ins Englische. Das Wort bled ist offenbar die französische Bezeichnung für ›Weiler‹, ›Flecken‹. Fat Boy hat es falsch übersetzt, mit ›bleeding‹ – ›blutend‹. Zu viel Input aus britischen Quellen in letzter Zeit, nehme ich an.«
Mr. Diamond starrte ungeduldig auf den Rücken des Ersten Assistenten. »Na schön, nehmen wir an, das wäre interessant. Also. Hannah Stern hatte einen Flug von Rom nach Pau gebucht. Fragen Sie Fat Boy nach dem nächsten Flughafen bei diesem Etchebar. Wenn es Pau ist, wissen wir, dass wir mit Schwierigkeiten zu rechnen haben.«
Die Frage wurde an den Computer weitergegeben. Der Bildschirm flimmerte, dann erschien eine Liste von Flughäfen in der Reihenfolge ihrer Entfernung von Etchebar. Der erste auf dieser Liste war Pau.
Diamond nickte schicksalsergeben.
Der Erste Assistent seufzte und schob den Zeigefinger unter seine Stahlbrille, um sich die roten Druckstellen zu massieren. »So sieht’s also aus. Wir haben guten Grund zu der Annahme, dass Hannah Stern Kontakt mit einem Mann mit einer violetten Karte aufgenommen hat. Auf der ganzen Welt gibt es nur noch drei Inhaber von violetten Karten, und unser Mädchen hat einen davon gefunden. Scheißspiel!«
»Ganz recht. Nun gut, wir wissen jetzt wenigstens mit Sicherheit, dass Nikolai Hel in dieser Sache drinsteckt. Gehen Sie wieder an Ihr Maschinchen und holen Sie alles heraus, was über ihn verfügbar ist, damit wir Mr. Able informieren können, sobald er eintrifft. Beginnen Sie mit seiner Ankunft in Tokio.«
JAPAN
Die Besatzungsmächte waren die Herren des Tages; die Verkünder der Demokratie diktierten ihr Glaubensbekenntnis vom Dai-Ichi-Gebäude aus, das nur durch einen Wassergraben vom kaiserlichen Palast getrennt war, bezeichnenderweise von dort aber nicht gesehen werden konnte. Japan war ein physischer, ökonomischer und emotionaler Trümmerhaufen, die Besatzer jedoch stellten ihren idealistischen Kreuzzug weit über die weltliche Sorge um das Wohlergehen des besiegten Volkes; eine gewonnene Stimme war mehr wert als ein verlorenes Leben.
Wie Millionen andere gehörte Nikolai Hel zu dem Strandgut, das sich vom Chaos des Nachkriegskampfes ums Überleben treiben ließ. Die emporschnellende Inflation verwandelte seinen kleinen Geldvorrat bald in Makulatur. Er suchte Arbeit bei den japanischen Kolonnen, die Trümmerfelder von Minen räumten, angesichts seiner Herkunft jedoch misstrauten die Vorarbeiter seinen Motiven und bezweifelten seine Bedürftigkeit. Auch konnte er bei keiner der Besatzungsmächte Zuflucht nehmen, da er nicht Bürger eines ihrer Staaten war. So tauchte er in der Flut der Obdachlosen unter, der Arbeitslosen, der Hungrigen, die durch die Stadt streiften und in Parks, unter Brücken und in Bahnhöfen schliefen. Es gab ein Überangebot von Arbeitern, aber zu wenig Arbeit, und nur die jungen Frauen vermochten Dienstleistungen zu bieten, die den rauen, übersättigten Soldaten, den neuen Herren, begehrenswert erschienen.
Als sein Geld verbraucht war, lebte Nikolai zwei Tage lang ohne zu essen und kehrte abends von seiner Arbeitssuche in den Shimbashi-Bahnhof zurück, wo er mit Hunderten von anderen schlief, die hungrig und heimatlos waren wie er. Sie suchten sich einen Platz auf oder unter den Bänken und in den Reihen, die eng aneinandergedrängt die Zwischenräume füllten, schlummerten unruhig oder fuhren, von Hunger gequält, aus drückenden Albträumen hoch. Jeden Morgen trieb die Polizei sie hinaus, damit der Verkehr nicht behindert wurde. Und an jedem Morgen gab es acht bis zehn unter ihnen, die auf die Stöße der Polizisten nicht reagierten. Hunger,
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