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Shibumi: Thriller (German Edition)

Shibumi: Thriller (German Edition)

Titel: Shibumi: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevanian
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Krankheit, Alter und mangelnder Lebenswille hatten sie über Nacht von der Bürde des Lebens befreit.
    Mit Tausenden von anderen wanderte Nikolai durch die regennassen Straßen und suchte nach Arbeit; suchte schließlich nach einer Gelegenheit zum Stehlen. Aber es gab keine Arbeit, und es gab nichts, was des Stehlens wert gewesen wäre. Seine hochgeschlossene Schüleruniform war stellenweise schmutzverkrustet und ständig feucht, und von seinen Schuhen war einer undicht. Er hatte die Sohle abgerissen, weil sie sich gelöst hatte und ihm die Würdelosigkeit ihres Flip-Flaps unerträglich erschien. Später wünschte er, er hätte sie lieber mit einem Tuchfetzen festgebunden.
    Am Abend des zweiten Tages ohne Nahrung kehrte er im Regen erst spät zum Shimbashi-Bahnhof zurück. Unter dem hohen Stahlgewölbe drängten sich gebrechliche alte Männer und verzweifelte Frauen mit Kindern, die ihre wenigen Habseligkeiten in Tuchfetzen zusammengerollt hatten und sich auf ihrem Platz mit einer stillen Würde einrichteten, die Nikolai mit Stolz erfüllte. Nie zuvor hatte er die Schönheit der japanischen Geisteshaltung richtig gewürdigt. Eng aneinandergedrängt, verängstigt, hungrig und frierend, begegneten sie einander selbst in dieser Situation emotionaler Anspannung mit Rücksicht und gemurmelten Höflichkeitsformeln. Einmal, bei Nacht, versuchte ein Mann einer jungen Frau etwas zu stehlen; es gab ein kurzes, beinahe lautloses Handgemenge in einer finsteren Ecke des großen Wartesaals, und der Gerechtigkeit war schnell und endgültig Genüge getan.
    Nikolai hatte das Glück, einen Platz unter einer Bank zu finden, wo jene, die sich während der Nacht erleichtern mussten, nicht auf ihn treten konnten. Auf der Bank über ihm lag eine Frau mit zwei Kindern, eines davon noch ein Baby. Leise sprach sie auf die beiden ein, bis sie einschliefen, nachdem sie die Mutter schüchtern darauf hingewiesen hatten, dass sie sehr hungrig seien. Sie erzählte ihnen, der Großvater sei in Wirklichkeit gar nicht tot, sondern werde sie bald abholen kommen. Später malte sie ihnen Wortbilder ihres Dörfchens am Meer. Nachdem die Kinder eingeschlafen waren, weinte die Mutter still vor sich hin.
    Der alte Mann auf dem Fußboden neben Nikolai arrangierte mit großer Sorgfalt seine Wertsachen auf einem zusammengefalteten Stück Stoff dicht neben seinem Gesicht, bevor er sich zur Ruhe legte. Sie bestanden aus einem Becher, einem Foto und einem Brief, den er so oft entfaltet und wieder zusammengelegt hatte, dass die Falzstellen dünn und ausgefranst waren. Es war ein Standardkondolenzbrief von der Armee. Bevor er die Augen schloss, wünschte der alte Mann dem jungen Fremden neben sich gute Nacht, und Nikolai wünschte ihm lächelnd dasselbe.
    Bevor er in einen unruhigen Schlaf sank, brachte Nikolai seine Gedanken zur Ruhe und floh vor dem ätzend nagenden Hungergefühl in eine mystische Entrückung. Wenn er von seiner kleinen Wiese mit dem wogenden Gras und dem goldenen Sonnenschein wiederkehrte, war er satt, obwohl er hungrig, von Frieden erfüllt, obwohl er verzweifelt war. Aber er wusste, dass er morgen Arbeit oder Geld finden musste, wenn er nicht sterben wollte.
    Als die Polizei sie kurz vor Tagesanbruch hinauswarf, war der alte Mann neben ihm tot. Nikolai packte Becher, Foto und Brief in sein eigenes Bündel, denn es kam ihm grausam vor, das, was der alte Mann so heilig gehalten hatte, zusammenfegen und wegwerfen zu lassen.
    Um die Mittagszeit war Nikolai auf seiner Suche nach Arbeit oder etwas zum Stehlen bis in den Hibiya-Park gekommen. Der Hunger war jetzt nicht mehr nur eine Frage des ungestillten Appetits, sondern ein scharfer Krampf, eine sich ausbreitende Schwäche, die seine Beine schwer und seinen Kopf leicht machte. Als er in der Flut verzweifelter Menschen dahintrieb, schlugen Wogen der Irrealität über ihm zusammen; Menschen und Dinge waren abwechselnd unterschiedslose Formen oder erstaunlich faszinierende Objekte. Manchmal ließ er sich von einem Strom gesichtsloser Menschen dahintragen, ließ ihre Energie und Zielstrebigkeit auf sich übergehen, ließ seine Gedanken wandern und wie ein verträumtes Karussell ohne Sinn kreisen. Der Hunger brachte die mystische Entrückung dicht an die Oberfläche seines Bewusstseins, und Ansätze zur Versenkung endeten in unvermitteltem Rücksturz in die Realität. Er ertappte sich dabei, wie er dastand und eine Mauer oder das Gesicht eines Passanten anstarrte, in dem Gefühl, er sehe etwas äußerst

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