Shibumi: Thriller (German Edition)
der kultivierte Klang des höfischen Russisch, sondern auch das Mitschwingen hochmütiger Verachtung! Wunderbar! Setzen Sie sich, junger Mann. Setzen Sie sich. Und erzählen Sie mir, warum Sie General Kishikawa sehen müssen.«
Müde und ausgepumpt sank Nikolai in den hart gepolsterten Sessel zurück. »Das ist so einfach, dass Sie es mir sicher nicht glauben werden. Kishikawa-san ist mein Freund. Er ist fast wie ein Vater für mich. Jetzt ist er allein, ohne Familie, und sitzt im Gefängnis. Ich muss ihm helfen, so gut ich kann. Wenigstens muss ich ihn sehen … mit ihm sprechen.«
»Eine schlichte Geste kindlicher Anhänglichkeit. Absolut begreiflich. Wollen Sie wirklich keinen Tee?«
»Wirklich nicht, danke.«
Während der Oberst sein Glas nachfüllte, schlug er einen Aktendeckel auf und überflog den Inhalt. Nikolai vermutete, dass die Zusammenstellung dieser Akte der Grund für seine dreistündige Wartezeit in den Vorzimmern des Hauptquartiers der sowjetischen Besatzungsmacht gewesen war.
»Wie ich sehe, besitzen Sie auch Papiere, die Sie als Bürger der Ud SSR ausweisen. Sie müssen zugeben, das ist so ungewöhnlich, dass ich eine Erklärung verlangen kann, nicht wahr?«
»Ihre Quellen innerhalb der SCAP sind offenbar sehr gut.«
Der Oberst zuckte lässig mit den Achseln. »Es geht.«
»Ich hatte eine Freundin, die mir die Anstellung bei den Amerikanern besorgte. Die hat mir auch den amerikanischen Ausweis verschafft …«
»Entschuldigen Sie, Herr Hel. Ich scheine mich heute Nachmittag nicht recht verständlich auszudrücken. Ich habe Sie nicht nach Ihren amerikanischen Papieren gefragt. Ich interessiere mich im Augenblick nur für Ihren russischen Ausweis.«
»Ich wollte Ihnen den Zusammenhang gerade erklären.«
»Ach so! Pardon.«
»Sie müssen wissen, dass diese Dame sich darüber im Klaren war, dass ich Schwierigkeiten bekommen könnte, falls die Amerikaner entdeckten, dass ich kein Bürger der Vereinigten Staaten bin. Um dem vorzubeugen, ließ sie mir zusätzlich Papiere ausstellen, die mir die russische Staatsangehörigkeit bescheinigten, damit ich sie neugierigen amerikanischen MP s vorzeigen und so einer peinlichen Befragung aus dem Weg gehen könnte.«
»Und wie oft trat die Notwendigkeit auf, diesen ungewöhnlichen Ausweg zu benutzen?«
»Noch nie.«
»Eine Zahl, die kaum eine so große Mühe rechtfertigt. Und warum ausgerechnet russisch? Warum haben Sie nicht irgendeine andere Nationalität aus Ihrer überfüllten Kinderstube gewählt?«
»Wie Sie ja bereits festgestellt haben, sehe ich nicht gerade asiatisch aus. Und die Einstellung der Amerikaner den Deutschen gegenüber kann man wohl kaum als freundlich bezeichnen.«
»Während ihre Einstellung den Russen gegenüber von Brüderlichkeit und Teilnahme geprägt ist, wie?«
»Natürlich nicht. Aber die Amerikaner misstrauen Ihnen und fürchten Sie, und deswegen behandeln sie sowjetische Staatsangehörige nicht so anmaßend wie andere.«
»Ihre Freundin war sehr klug, Herr Hel. Bitte sagen Sie mir doch, warum sie sich Ihretwegen so große Mühe gab. Warum sie ein so großes Risiko einging.«
Nikolai gab keine Antwort, doch sein Schweigen war beredt genug.
»Ich verstehe«, behauptete Oberst Gorbatow. »Natürlich. Und außerdem war Miss Goodbody schließlich eine Frau, die nicht mehr an der Last erster Jugendblüte zu tragen hatte.«
Nikolai errötete vor Zorn. »Sie wissen ja alles!«
Gorbatow nahm die Brille ab und grinste spöttisch. »Sagen wir, ich weiß einiges. Über Miss Goodbody, zum Beispiel. Und über Ihren Haushalt im Asakusa-Bezirk. Tz, tz, tz. Zwei junge Damen auf einmal, um Ihr Bett zu wärmen? Ausschweifende Jugend! Außerdem weiß ich, dass Ihre Mutter die Gräfin Alexandra Iwanowna war. O ja, einiges weiß ich über Sie.«
»Und Sie haben mir die ganze Zeit geglaubt, nicht wahr?«
Gorbatow zuckte die Achseln. »Zutreffender wäre es zu sagen, dass ich Ihnen gewisse Einzelheiten glaube, mit denen Sie Ihre Geschichte ausgeschmückt haben. Ich weiß, dass Sie vergangenen …«, ein kurzer Blick in den Aktenhefter, »dass Sie vergangenen Dienstag um halb acht Uhr morgens Captain Thomas vom Stab des Gerichtshofs für Kriegsverbrecher aufgesucht haben. Vermutlich teilte er Ihnen mit, er könne in der Angelegenheit General Kishikawas nichts für Sie tun, weil dieser, abgesehen von der Tatsache, dass er als Kriegsverbrecher gegen die Gesetze der Menschlichkeit verstoßen habe, außerdem der einzige ranghohe Offizier
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