Shibumi: Thriller (German Edition)
war.«
»Aber Sie waren doch noch ein Kind!«
»Ich bin dreiundzwanzig, Sir.«
Der Captain hob die Augenbrauen. Wie alle anderen, ließ auch er sich durch Nikolais jugendliche Erscheinung täuschen. »Verzeihung. Ich hatte Sie für viel jünger gehalten. Was meinen Sie damit, dass Kishikawa Ihnen geholfen hat?«
»Er hat sich nach dem Tod meiner Mutter um mich gekümmert.«
»Aha. Sie sind Engländer, nicht wahr?«
»Nein.«
»Ire?« Wieder einmal bewirkte sein Akzent, dass man ihn als »von anderswo« einstufte.
»Nein, Captain. Ich arbeite bei SCAP als Übersetzer.« Er hielt es für angezeigt, die Frage seiner Nationalität – oder vielmehr das Fehlen einer solchen – zu umgehen.
»Wollen Sie sich als Leumundszeuge anbieten?«
»Ich möchte ihm helfen – wie immer ich kann.«
Captain Thomas nickte und tastete nach einer Zigarette. »Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass Sie ihm viel helfen können. Wir haben zu wenig Personal hier und sind überarbeitet. Ich bin gezwungen, mich auf die Fälle zu konzentrieren, bei denen Aussicht auf Erfolg besteht. Und in diese Kategorie gehört Kishikawas Fall zweifellos nicht. Das klingt für Sie möglicherweise gefühlskalt, trotzdem halte ich es für besser, aufrichtig zu Ihnen zu sein.«
»Aber … Ich kann einfach nicht glauben, dass General Kishikawa irgendeine Schuld oder gar ein Verbrechen auf sich geladen hat. Wie lautet denn die Anklage gegen ihn?«
»Er ist in Klasse A eingestuft worden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit – was immer man darunter verstehen mag.«
»Aber wer sagt gegen ihn aus? Und was soll er getan haben?«
»Keine Ahnung. Die Anklage liegt in den Händen der Russen, und die gestatten erst am Tag vor der Verhandlung Einblick in ihre Dokumente und Quellen. Wahrscheinlich geht es um seine Tätigkeit als Militärgouverneur von Shanghai. Unsere russischen Propagandafreunde haben verschiedentlich den Namen ›Tiger von Shanghai‹ für ihn verwendet.«
»›Tiger von …‹ Aber das ist doch Unsinn! Er war Verwaltungsbeamter. Er hat dafür gesorgt, dass die Wasserversorgung wieder funktionierte, die Krankenhäuser … Wie kann man nur …«
»Während seiner Dienstzeit als Gouverneur wurden vier Männer verurteilt und hingerichtet. Wussten Sie das?«
»Nein, aber …«
»Nach allem, was mir bekannt ist, hätten diese vier Männer Mörder, Plünderer oder Sexualverbrecher sein können. Mit Sicherheit weiß ich jedoch, dass die Zahl der Hinrichtungen wegen Kapitalverbrechen während der zehnjährigen Herrschaft der Briten im Durchschnitt vierzehn Komma sechs betrug. Daher sollte man meinen, dieser Vergleich müsste positiv für Ihren Freund ausfallen. Doch die Männer, die unter seinem Regime hingerichtet wurden, werden heute als ›Volkshelden‹ gefeiert. Und Volkshelden kann man nicht einfach hinrichten lassen. Vor allem nicht, wenn man als ›Tiger von Shanghai‹ bekannt ist.«
»Kein Mensch hat ihn jemals so genannt!«
»Aber jetzt wird er so genannt.« Captain Thomas lehnte sich zurück und presste die Zeigefinger auf seine tief in den Höhlen liegenden Augen. Dann zerrte er, um wieder munter zu werden, an seinem sandfarbenen Haar. »Und ich wette den Hintern meiner Großmutter, dass dieser Name bei der Verhandlung mindestens hundertmal aufs Tapet kommen wird. Tut mir leid, wenn ich defätistisch klinge, aber ich weiß zufällig, dass den Sowjets sehr viel daran liegt, diesen Prozess zu gewinnen. Sie machen einen Riesen-Propagandawirbel um den Fall. Zweifellos ist Ihnen bekannt, dass sie ziemlich hart unter Beschuss genommen wurden, weil sie ihre Kriegsgefangenen nicht repatriiert, sondern sie allesamt nach Sibirien in sogenannte ›Umerziehungslager‹ geschickt haben, damit sie voll indoktriniert in die Heimat zurückkehren können. Außerdem haben sie keinen einzigen Kriegsverbrecher ausgeliefert – bis auf Kishikawa. Deswegen wurde diese ganze Geschichte sorgfältig von ihnen geplant, weil es eine Gelegenheit für sie war, der Welt zu zeigen, dass sie trotz allem ihre Pflicht tun, die japanischen kapitalistischen Imperialisten nach Kräften auszumerzen und dem Sozialismus den Weg zu bereiten. Sie, Mr. Hel, scheinen diesen Kishikawa für unschuldig zu halten. Okay, das mag richtig sein. Aber ich versichere Ihnen, dass er sämtliche Qualifikationen für einen Kriegsverbrecher aufweist. Denn sehen Sie, die wichtigste Qualifikation für diese Ehre ist es, zu den Verlierern zu gehören. Und das tut er – unbestreitbar.«
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