Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
Spekulationen von Seiten der Meteorologen folgte eine Werbepause. Als die Nachrichten kurz darauf fortgesetzt wurden, hörte Abby, während sie gerade eine Fensterbank abwischte, einen Begriff, der stets dazu angetan war, ihr Herz stocken zu lassen.
Our Lady of Virtues …
Ruckartig hob sie den Kopf und konzentrierte sich auf den Bildschirm des kleinen Geräts im Bücherregal. Eine gertenschlanke Reporterin mit perfektem Make-up und kurzem dunklen Haar stand vor dem Grundstück des alten Krankenhauses, in dem Faith Chastains Leben sein Ende gefunden hatte.
»… das Krankenhaus ist seit beinahe hundert Jahren eine der großen Sehenswürdigkeiten in dieser Gegend«, erklärte die junge Reporterin, deren Haar vom Wind zerzaust wurde. »Das Gebäude hinter mir hat in seiner langen, zum Teil skandalösen Vergangenheit verschiedene Inkarnationen durchlaufen.«
O Gott, sie wollten doch wohl nicht wieder einmal den Tod ihrer Mutter aufrollen?
Sämtliche Muskeln in Abbys Körper spannten sich an, als erwarteten sie einen vernichtenden Schlag.
»Ursprünglich als Waisenhaus konzipiert, wurde das Hauptgebäude nach dem Zweiten Weltkrieg in ein Krankenhaus umgewandelt und von Anfang an von einem katholischen Nonnenorden geleitet.« Die Kamera schwenkte von der Reporterin hinüber zu dem einstmals so stattlichen Gebäude.
Abbys Herz krampfte sich zusammen, als sie das Krankenhaus sah, mit der breiten betonierten Zufahrt, die mittlerweile bucklig und von Unkraut überwuchert war. Vor langer Zeit hatte Abby am Beckenrand des Springbrunnens gesessen, den die Zufahrt umrundete, und hatte die Kois beobachtet, die zwischen dem dichten Seerosenbewuchs im sonnenglitzernden Wasser umherschossen. Feinste Wassertropfen hatten ihre Haut geküsst. Von diesem Ort aus hatte sie zu den hohen Bogenfenstern im zweiten Stock hinaufblicken können, die zum Zimmer ihrer Mutter gehörten.
Abby schluckte hart. Wie viele Stunden hatte sie an diesemBrunnen verbracht? Jetzt war er ausgetrocknet und rissig und die Engelskulpturen waren von grünem, schleimigem Moos überzogen, das wie Tränen aus ihren Augen zu rinnen schien.
»Zuletzt diente Our Lady of Virtues als Hospital für Geisteskranke, und obwohl es sich im Privatbesitz befand, litt es doch auch unter der Streichung der Landesmittel. Aufgrund etlicher Vorwürfe von Missbrauch und des vermutlichen Suizids einer Patientin musste die Einrichtung vor knapp achtzehn Jahren dann endgültig ihre Pforten schließen …«
Abby hatte einen Kloß im Hals. Sie ließ den Wischlappen fallen und verfolgte gebannt die Nachrichtensendung.
Über dem Fernseher, im Regal beim Kamin, stand ein rechteckiges Foto von ihrer Mutter – lächelnd, das dunkle Haar aus dem schönen Gesicht gekämmt, ohne eine Spur von der gemarterten Seele, die sich hinter diesen großen, bernsteinfarbenen Augen verborgen hatte.
Abby ging hinüber und nahm das Bild von seinem Platz. Tiefe Traurigkeit erfasste sie und sie empfand eine schmerzliche Sehnsucht danach, noch einmal das zarte Lächeln ihrer Mutter zu sehen, ihre kühle Hand zu spüren, die die ihre hielt, den sanften, sauberen Duft ihres Parfüms wahrzunehmen.
»… der Abrissbirne preisgegeben, irgendwann im nächsten Jahr, wenn alles nach Plan verläuft.«
Abbys Kopf fuhr zum Bildschirm herum. Man wollte das alte Krankenhaus abreißen?
Die Zeichnung eines zweistöckigen Gebäudes, ähnlich dem ursprünglichen, aber neuer, heller und moderner, erschien auf dem Bildschirm. Verschwunden war das bleiverglaste Fenster mit der Madonna, verschwunden waren auch die Wasserspeier an den Fallrohren und die weitläufigen überdachten,gefliesten Veranden. Statt Backstein war Beton vorgesehen, die Fenster sollten größer und der Engelsbrunnen sollte ersetzt werden durch ein »Wasserspiel« aus Metall und Stein.
Die Szene wechselte ins Studio, wo der Nachrichtensprecher, Mel Isley, hinter einem großen, geschwungenen Schreibtisch saß. In einer Ecke zeigte ein Bildschirmfenster die Reporterin auf dem Anstaltsgelände. Sie sprach immer noch.
»Die Planung sieht vor, die Anlage in eine Seniorenresidenz umzuwandeln, von betreutem Wohnen bis zur vollen Pflegestufe.«
»Vielen Dank, Daria«, sagte der Nachrichtensprecher. Der Ausschnitt mit der Reporterin verschwand und die Kameras richteten sich auf Isley, einen Mann, dem Abby während ihrer Ehe mit Luke ein paarmal begegnet war. Ein aalglatter Schleimer, hatte sie damals gedacht. Er sah gut aus, aber für Abbys Geschmack ein
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