Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
Natur ringsum hatte ihr das abgelegene Haus ursprünglich so attraktiv erscheinen lassen. Als sie das Anwesen zum ersten Mal besichtigte, hatte sie einen Silberreiher gesehen und wenige Minuten später ein Reh.
Sie war hingerissen gewesen. Nachdem sie dann das Haus gekauft hatten, saß sie oft in dem Schaukelstuhl ihrer Großmutter am Fenster oder auf der hinteren Veranda und beobachtete die Tiere – die Reiher und die Pelikane, die Eichhörnchen und Rehe … Aber das war zu einer Zeit, bevor alles den Bach hinunterging, damals, als sie noch Hoffnung hatte.
Nun, wehmütige Erinnerungen wollte sie nicht zulassen. Die Mikrowelle klingelte. Mit Hilfe eines Topflappens nahm Abby die Tasse heraus und trank vorsichtig einen Schluck, an dem sie sich beinahe die Lippen verbrühte.
Wieder läutete das Telefon. Sie fuhr zusammen, und etwas von dem heißen Kaffee schwappte auf ihre Hand und ihren Ärmel. Die Tasse entglitt ihr. Sie zerbrach auf dem Boden in blaue Keramikscherben. Der Kaffee spritzte an die Schränke und breitete sich auf dem Boden zu einer Pfütze aus.
Hershey zog den Schwanz ein und nahm das Missgeschick in Augenschein. Das verdammte Telefon klingelte erneut. Abby sah die Nummer des Anrufers auf dem Display, hobden Hörer ab und wappnete sich. »Hi, Dad«, sagte sie, tupfte mit dem Topflappen auf ihrem Arm herum und klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter.
»Hallo, Schatz.« Jacques Chastains Stimme war ein Rasseln, ein Flüstern im Vergleich zu früher, und Abby stellte ihn sich vor, wie er in seinem Sessel saß, das Sauerstoffgerät neben sich, Plastikschläuche in den Nasenlöchern. Krebs und Emphysem hatten langsam, aber sicher ihre Spuren an seinem Körper hinterlassen. Ein Teil der Speiseröhre war chirurgisch entfernt worden, die Chemotherapie hatte Jacques seiner Kräfte beraubt. Inzwischen ging es ihm besser, aber er würde nie wieder der große, robuste, lebenslustige Mann sein, der er einmal gewesen war. Der Bergsteiger, Wildwasserkanute und Tennisspieler.
Nie wieder.
»Dad, wie geht’s dir?«, fragte Abby und wehrte sich gegen den Kloß in ihrem Hals.
»Ich bewege mich, also bin ich wohl noch am Leben. Und dir?«
»Ganz gut.«
»Ich habe von der Sache mit Luke gehört«, sagte er. »Wie schrecklich! Es tut mir Leid.«
»Mir auch.« Sie starrte auf den roten Striemen auf ihrer Hand, wo der Kaffee sie verbrannt hatte.
»Ich weiß, zwischen euch stand es nicht zum Besten, aber … ich mochte ihn.«
»Ich auch. Damals.« Sie fühlte sich verraten, weil ihr Vater Worte aussprach und Gefühle eingestand, die ihr wehtaten. Jacques, schon immer ein Träumer, war der Meinung gewesen, sie sollte bei ihrem Mann bleiben, Luke würde »schon irgendwann zu Verstand kommen«, wenn sie ihm noch eine Chance gab. Abby sah das anders. In ihren Augen wäre dasverlorene Liebesmüh gewesen. Schließlich hatte sie sich einmal um eine Versöhnung bemüht. Und es hatte nicht geklappt.
Allerdings hatte ihr Vater nie von Lukes Affäre mit Zoey erfahren. Und so würde es auch bleiben. Es gab keinen Grund, Jacques’ Verhältnis zu seiner Erstgeborenen zu zerstören. Außerdem war das, wie man so sagt, Schnee von gestern. Schmutziger, verharschter Schnee.
»Weißt du, wann das Begräbnis stattfindet? Ich würde gern hingehen.«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, die Polizei hat noch nicht einmal seine Leiche freigegeben. Aber wenn ich es in Erfahrung gebracht habe, lass ich es dich wissen.« Abbys Hand begann zu schmerzen und sie trat mit einem großen Schritt über den verschütteten Kaffee und die Scherben hinweg, drehte das kalte Wasser auf und ließ es über ihre Hand laufen.
»Das Mädchen, das mit ihm zusammen gefunden wurde – hast du es gekannt?«
»Nein.«
Ein sekundenlanges Zögern, und Abby wusste, was jetzt kam. »Ich frage nur äußerst ungern, aber hatte er was mit ihr?«
»Ich weiß es nicht, Dad.«
»Nun, ich glaube, eher nicht«, sagte er.
Sie nahm ein Geschirrtuch vom Griff der Backofentür, beugte sich hinab, und während sie mit einer Hand den Hörer an ihr Ohr hielt, las sie mit der anderen die größeren Scherben auf und warf sie in den Mülleimer unter der Spüle.
»Aber es handelt sich um einen Doppelmord, nicht wahr? Nicht um Mord in Verbindung mit Selbstmord, wie es zu Anfang hieß?«
»Ich weiß eigentlich nicht, was Sache ist«, gestand Abby ein. Sorgfältig wischte sie mit dem Geschirrtuch die Kaffeepfütze auf dem Holzfußboden auf.
»Oh … na ja …« Jacques
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