Shooting Stars (German Edition)
versammelt. Sie legen Blumen nieder. Zünden Kerzen an. Tragen Transparente und Tafeln, mit denen sie letzte Grüße und persönliche Botschaften in die Welt zu senden hoffen.
Es ist der gleiche Mechanismus, denke ich. Sie schleichen sich in Carlas Schicksal ein. In ein Leben, das größer ist als ihres. Und sie erschleichen sich dabei ein Stück dieser Größe. Glauben, selbst an etwas Großem teilzuhaben und dabei selbst ein kleines Stück, wenigstens für kurze Zeit ein kleines Stück größer zu werden.
Indem man heute eine Kerze anzündet, denke ich. Es ist genau, wie wenn man zu Konzerten geht, zu Filmpremieren oder was auch immer. Sie geben sich auch heute mit ihren Gesten des Mitgefühls selbst das Gefühl, wichtig zu sein. Einen Augenblick lang fühlen sie sich unter diesem imaginären Vergrößerungsglas der Teilhabe selbst ein Stück weit bedeutend. Und ein wenig macht mich dieser Gedanke zweifeln. Wenn ich sehe, wie viele es sind, die an dieser kollektiven Trauer teilhaben, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es richtig ist. Ob ich richtig denke, wenn ich glaube, dass man sie davon erlösen sollte. Dass Menschen nicht ihr eigenes Leben an dem der anderen aufrichten sollten. Dass sie all den Versuchungen der imaginären Größe widerstehen und nicht auf diesen Mechanismus hereinfallen sollten. Weil er es ist, der ihnen die Chance darauf nimmt, sich selbst ernst zu nehmen. Weil er uns immer dann, wenn er vorgibt, uns zu überhöhen, unserer Chancen beraubt.
Ich kann nicht anders, als bei all der Anteilnahme heute an das Hurra zu denken, mit dem man den Franzosen, den Deutschen oder den Hadschis aufs Maul hauen wollte. Als Nation oder Weltanschauungsgemeinschaft wollte man den anderen zeigen, wer das Sagen hat. Söhne und Töchter wurden Teil einer großen Sache und haben sich mit ihrer Teilnahme an dieser großen Sache klein gemacht. Ihr Hurra hat sie zu einem winzigen Rädchen werden lassen. Zu einer winzigen Marionette, die Mächtige für ihre Zwecke einsetzen konnten. Einsetzen mussten, weil die Logik des Krieges galt.
Und ein bisschen, vielleicht mehr als ein bisschen, ist unser Zu-Ga-Be, sind unsere Beifallsbekundungen, die Poster an unseren Wänden und unser Fiebern mit den Stars und Sternchen, sind die Bilder in Zeitschriften und die Berichte, die sich mit all den Privatangelegenheiten der Stars beschäftigen, sind die Anzüge der Stars, die auch wir tragen wollen, sind ihre Autos, ihre Möbel, ihre Uhren, Sonnenbrillen und ihre Häuser, sind ihre Café-Lattes und Haute-Cuisine-Schi-Schi-Vorlieben, sind all ihre Dinge und Eigenschaften, die wir so leicht auf uns übertragen zu können glauben, nichts anderes als kleine Hurrarufe. Diese vielen kleinen Beifallsbekundungen sind es, die auch uns zu kleinen Rädchen machen. Die es erst ermöglichen, dass man uns für irgendwelche Zwecke einsetzt. Einsetzen muss, wenn die Logik unserer Gesellschaft gilt.
7
Sie senden immer noch. Während ich zehn Minuten von dem offenen Netz auf dem Boulevard Sevastopol entfernt in einem kleinen Kaffee sitze, mich kurz mit der Kellnerin unterhalte, in einer Zeitung blättere, den bitteren Espresso trinke und eine eiskalte Coca, während ich mir wieder einmal Gedanken darüber mache, was sie unternehmen werden, mit welchen Gegenmitteln ich zu rechnen habe, wie sie sich gegen mich wappnen werden, sehe ich den Bildern im Fernsehen zu.
Es ist noch nicht Zeit. Noch kann ich mich nicht auf den Weg machen und meine Botschaft in die Welt senden. Alles, was mir bleibt, ist zu warten und zuzusehen, wie sie das Ereignis inszenieren.
Im Café lese ich die Spruchbänder mit den Breaking News, die sie unter den Bildern entlanglaufen lassen. Börsenkurse sind das. Neuigkeiten – oder nichts Neues aus Schweden. Und dann doch etwas Neues aus Schweden.
Moderatoren-Mord in Schweden. Manifest aufgetaucht
, steht da.
Ich lege ein paar Münzen auf den Tisch, stehe auf, gehe vor die Türe.
Ein kurzer Schwindel geht durch meinen Kopf. Der Boden zittert beinahe unmerklich ein paar Sekunden lang unter meinen Beinen.
Ich falle aus meiner mir ordentlich zurechtgelegten Sicherheit für einen Augenblick ins Bodenlose. Wie damals. Wie jedes Mal, wenn es losging.
Ich kann nicht anders, als zu sehen, dass mir die Sache entgleitet. Weil ich weiß, dass dieses Manifest meinen Plan durchkreuzt. Dass meine Nachricht, wenn ich sie heute in die Welt entlasse, nicht mehr die Wirkung haben wird, die ich mir erhofft hatte.
Ich stehe auf der Straße.
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