Shooting Stars (German Edition)
das, denke ich. Wir haben es wenigstens geschafft, uns dieser Misere zu entziehen. Im Grunde, auf einer ganz tiefen Ebene, denke ich, verstehen wir uns doch. Auch wenn wir beide es nicht schaffen, diesem Verständnis füreinander, diesem Rest von Liebe, der uns geblieben ist, im Alltag. Nein. Es ist nicht mehr unser Alltag. Es sind nur mehr besondere Situationen, in denen wir miteinander in Kontakt treten. Geburtstage. Weihnachten. Ostern. Aber bei all diesen Gelegenheiten schaffen wir es nicht, unserer gegenseitigen Sympathie und der Wertschätzung, die wir trotz allem füreinander empfinden, Ausdruck zu verleihen.
Trotzdem. Trotz der zwei Millionen und der Sicherheit, das Richtige getan zu haben, fühlte ich mich schäbig. Immer noch auf eigenartige Weise schäbig, obwohl ich doch sicher war, dass zwei Millionen für ein schönes Leben reichen. Ich weiß, dass ich mehr auch gar nicht hätte zur Verfügung stellen können, ohne mit dem Verkaufen beginnen zu müssen oder ohne mich zu verschulden. Trotzdem, vielleicht gerade weil ich weiß, dass nicht das Geld der Grund ist. Nein. Es ist der Grund. Ich fühle mich schäbig, weil ich versucht habe, mich freizukaufen. Aber man kann sich von solchen Dingen nicht freikaufen. Seine Verantwortung nicht abgeben, wie man zwei Millionen abgibt, denke ich. Und frage mich wieder, ob sie schon bei ihr sind. Ob sie schon dabei sind, zu ihr zu kommen. Und ob es mich überhaupt retten könnte, Marian und die Kinder wegzubringen. Weil sie ja, wenn sie nachvollziehen können, wo ich wann war, auch wissen, wo ich wann gewohnt habe. In welchen Hotels und Pensionen ich untergekommen bin. Und dort könnten sie dann Spuren von mir nehmen. Phantombilder erstellen. Dann hätte ich meinen Vorsprung verloren, mit dem ich gerechnet habe, weil ich mich dank ihm frei bewegen kann. Weil ich machen kann, was ich will. Während sie viele routinemäßige Personenkontrollen auf den Straßen durchführen, während sie Flughäfen überwachen, Bahnhöfe screenen, Polizisten an jede Ecke stellen, suchen sie doch nur nach der Nadel im Heuhaufen, denke ich. Wenn sie es noch nicht wissen, könnten sie mich ohne weiteres kontrollieren. Sie könnten mich durchleuchten und hätten dennoch nicht die geringste Chance darauf, aus ihrer Kontrolle die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Sie sind ohnmächtig, denke ich. Falls mich mein Fehler mit dem Handy noch nicht in ihre Arme getrieben hat, können sie nichts unternehmen. Sie könnten Panzerwagen auf die Straßen stellen. Eine Million Polizisten durch Deutschland scheuchen, um mich zu fassen. Und hätten doch kein Machtmittel gegen mich in der Hand.
Aber all das tun sie noch gar nicht. Ich habe die Gesellschaft direkt attackiert und sie scheint sich nur halbherzig zu wehren. Ich weiß nicht genau, was hinter den Kulissen passiert. Dort, wo man als Zivilist nicht hinsehen kann. Aber an der Oberfläche scheint alles relativ normal zu sein. Sicher, die Polizeipräsenz ist groß. Auch hier in Paris. Aber wenn man davon absieht, geht das Leben seine normalen Bahnen. Gehen Menschen arbeiten, einkaufen, in Bars, sie treffen Freunde und heimliche Geliebte, anscheinend ohne sich viele Gedanken zu machen.
Vielleicht steckt ein bisschen Angst in ihnen allen, denke ich. Aber diese Angst hat kein konkretes Ziel. Ebenso wenig wie die Ermittler, die unsere Gesellschaft schützen wollen, und die im Moment noch nicht wissen, wie genau sie die Gesellschaft schützen sollen, hat auch die Angst der Menschen kein konkretes Ziel, sondern nur ein Bild, auf das man diese Angst projizieren kann.
Nur eine Ausgangssperre, der Notstand oder was auch immer sie ausrufen können, könnte mich wirklich bremsen. Und trotzdem habe auch ich Angst. Ich glaube es nicht. Schon allein deshalb, weil sie noch nicht bei mir sind, glaube ich nicht, dass sie mir wirklich nah auf den Fersen sind. Ich weiß, im Grunde bin ich mir sicher, dass es nur ein Gespenst ist, dem ich hinterherlaufe. Aber trotzdem falle ich immer wieder in meine Angst hinein.
Ich könnte Marian anrufen und es in Erfahrung bringen. Denke ich. Aber ich werde sie nicht anrufen. Nicht jetzt. So spät abends aus einem schäbigen Hotelzimmer in Paris. Ich könnte ihr nicht erklären, warum ich anrufe. Und schon gar nicht könnte ich ihr weiß machen, dass meine Frage danach, ob jemand nach mir gefragt hat, Sinn macht. Sie würde wieder, denke ich. Aber ich beschließe, diesen Gedanken nicht zu Ende zu denken.
4
Das Schlafen
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