Shooting Stars (German Edition)
Tränen kämpft und sagt:
Ich vermisse dich
. Wie er es übers Herz bringt, die Rolle des staatstragenden Siegers zu vergessen und stattdessen dasteht und sagt
: Ich vermisse dich. Wir alle vermissen dich
.
Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn ich es gewesen wäre, wenn da einer der Angehörigen eines meiner Opfer vor der Kamera stehen und weinen würde. Aber ich bin mir sicher, dass es das schon gegeben hat. Ich müsste nur die Zeitungen und das Internet durchsuchen, um ein Interview mit einem Angehörigen eines Opfers zu finden. Ich werde das bleiben lassen.
Ich werde mich nicht selbst in eine Situation bringen, in die man mich ohnehin bald bringen wird. In eine Situation, die ich nicht kenne, weil ich nie damit konfrontieren wurde, was mit dem Umfeld meiner Opfer war, weil ich zwar oft darüber nachgedacht, aber kaum je erlebt habe, dass ich mit meinen Taten nicht nur Personen hinter Funktionen, sondern auch deren Angehörige getroffen habe.
Nie, sage ich, und denke an den 15. August und an den 9. September. An diese zwei Tage, an denen ich mich auch selbst nicht mehr darüber hinwegtäuschen konnte, dass jeder Schuss, den ich und den die anderen setzten, durch das getroffene Ziel hindurch doch noch jemand anderen traf. Aber das ist eine andere Geschichte. Sie gehört nicht hierher. Nicht heute.
3
Während ich mich langsam in Stellung bringe, auf den kleinen Hügel steige, von dem aus ich ihn sehen werde, von dem aus ich handeln werde, denke ich darüber nach, was ich machen werde, wenn es eines Tages so weit ist. Wenn sie auch mich gefasst haben werden. Wenn sich, wie gestern in Frankreich, auch in Deutschland oder in Schweden oder vielleicht auch wieder in Frankreich jemand vor die Kamera stellen wird, um mit ernster Miene zu verkünden, dass sie mich haben.
Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt erwischen lassen kann. Werde ich, wenn sie mich in ihrer Gewalt haben, den Mund halten können? Werde ich, wenn ich mit den Emotionen der Angehörigen konfrontiert werde, genauso schwer atmen wie schon so viele vor mir? Wie dieser vor Angst und Erregung zitternde Russe, wie Tschikatilo, den sie den Schlächter von Rostov genannt haben. Mitten im Gerichtsgebäude haben sie ihn in einen Käfig gesperrt, um ihn während der Verhandlungen vor der Wut der Eltern seiner Opfer zu schützen.
Wenn ich mich richtig erinnere, hat er weniger Menschen als ich getötet, der Schlächter von Rostov. Und dieselben Journalisten, die ihn Schlächter nennen, würden mich heute noch Hauptmann nennen. Jetzt, wenn sie mich heute für eine ihrer Dokumentationen oder für einen ihrer Themenschwerpunkte gewinnen würden, wäre ich
Hauptmann a. D. Günter Maier, Name von der Redaktion geändert
.
Aber darum geht es nicht.
Es geht nicht darum, was er aus welchem Grund getan hat und was ich aus welchen Gründen tun durfte. In meinem Kopf dreht sich alles um die Frage, was ich tun werde, wenn sie mich gefasst haben werden. Ob ich vor Gericht genauso kümmerlich enden werde wie so viele, die ihre Position der Schwäche nicht mehr in Stärke verwandeln konnten, die als geistig abnorm abgestempelt wurden und die man damit auf praktische Weise aus der Gesellschaft hinausdiagnostiziert hat. Die man, um die eigene Logik nicht zu gefährden, als einen kranken Auswuchs sehen musste. Als etwas, das man nicht erklären kann. Das man aus der Gesellschaft herausschneiden muss wie ein bösartiges Geschwür aus dem Körper eines kranken Menschen.
Es ist die Logik des gesunden Menschenverstandes, die verhindert, dass man, wenn sie einen in der Hand haben, die eigene Niederlage doch noch in einen Sieg verwandeln kann. Aber tot, denke ich, selbst wenn ich mich erschießen ließe oder wenn ich mich selbst erschießen würde. Es würde nichts daran ändern, dass ich verloren hätte, denke ich, und sehe Stefan, wie er aus seinem Haus kommt und in den Garten geht.
Er ist nicht alleine, hinter ihm kommen zwei oder drei andere Personen aus dem Haus. Er hat ein Glas in der Hand und trägt eine schwarze Mappe unter dem Arm. Dieselbe oder zumindest eine ähnliche Mappe, wie sie auch die anderen tragen, deren Gesichter ich nicht zuordnen kann. Aber ich glaube. Nein. Ich hoffe mehr, als dass ich glaube, dass heute ein guter Tag für mich sein wird.
4
Es ist nicht mehr wichtig. Heute zumindest ist es mir nicht mehr wichtig, dass sie erkennen werden, woher ich komme. Dass sie gar nicht mehr anders können werden, als zu sehen, welches Handwerk ich
Weitere Kostenlose Bücher