Shooting Stars (German Edition)
scheucht oder zu den Nachbarskindern, mit denen sie sich das Revier dieser verkehrsberuhigten Straße teilen. Die in ebenso großen Häusern wohnen und in ebenso großen Gärten spielen wie Elfi und Lukas. Es ist eine behütete Gegend hier. Man hat den Eindruck, nichts könnte die Freude des Augenblicks, wenn Kinder über die Straße laufen, trüben.
Aber das stimmt nicht. Genau wie in meiner Kindheit, genau wie in der großzügigen Villa, die ich mit meinem Vater und meiner Mutter bewohnt habe, als kindliches und später als jugendliches Bindeglied zwischen diesen zwei Menschen, bricht die Welt auch hier innerhalb der eigenen vier Wände immer wieder auseinander. Kann auch hier niemand die Welt anhalten. Dreht sie sich weiter und sie dreht sich manchmal über die Menschen, auch über die scheinbar behüteten und vom Leben reich beschenkten Kinder hinweg.
Ich sehe einen braunen Haarschopf über die Rückenlehne des fröhlich roten Sofas im Wohnzimmer herausstehen. Es ist Lukas’ Kopf, es müssen seine wuscheligen Haare sein. Er ist größer geworden. Er muss ein ganzes Stück gewachsen sein. Aber das war ja nicht anders zu erwarten, denke ich. Es kann gar nicht anders sein, auch wenn ich nicht darüber nachgedacht habe, bevor ich mich auf den Weg zu ihnen gemacht habe. Doch, ich habe darüber nachgedacht, aber ich konnte es mir nicht vorstellen. Man kann es sich nie vorstellen, denke ich, wie sich die Menschen tatsächlich verändern, wenn man sie längere Zeit nicht sieht. Es schleicht sich immer wieder eine unausgesprochene Fremdheit zwischen mich und all die Menschen, vor denen ich mich zurückziehe.
Die Wirklichkeit, das, was sich in meiner Abwesenheit tatsächlich vollzieht, konnte ich mir noch nie vorstellen und es hat mich immer wieder aufs Neue überrascht, wie sehr sich die Welt verändert, dass sie sich ohne Rücksicht auf meine Vorstellungen unaufhaltsam weiterdreht, während ich ihr nicht mehr dabei zusehe. Weil ich mich von vielen meiner kleinen Welten abgewandt habe, sind sie mir allesamt fremd geworden. Denke ich. Und frage mich, warum ich das größte Glück empfinde, wenn ich alleine bin. Oder nicht das größte Glück. Es ist die maximale Ausgeglichenheit, die ich empfinde. Ich ruhe in mir selbst, denke ich, wenn ich alleine bin. Über längere Zeiträume hinweg nur mit mir und mir beschäftigt. Und es gibt bloß ein paar kurze Momente, in denen dann alles wieder über mich hereinbricht. Wie durch einen Damm, nein, durch eine kleine Schleuse, die geöffnet wird, strömen dann die Erinnerungen und Vorstellungen zurück in mein Bewusstsein. Merke ich plötzlich, dass ich jemanden vermisse. Dass ich meinen Lieben nah sein will. Und kann es doch nicht. Ziehe mich doch wieder in mich zurück und baue weiter an der kleinen Welt, die ich in meinem Inneren wie einen geheimen Schatz hüte, wie eines meiner kleinen Bauwerke, in denen ich mich als Kind verloren habe und die ich gegen all die widrigen Einflüsse und Bedrohungen von außen zu beschützen gelernt hatte.
Kein Mann, denke ich. Im Haus kann ich keinen Mann sehen. Und ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht. Ich weiß nicht, welchen Unterschied das für mich machen würde. Aber bin mir sicher, dass es einen geben muss.
Es würde einen Unterschied machen und es gibt bestimmt auch einen Mann. Es kann gar nicht anders sein, als dass sich jemand für Marian interessiert. Und sie, denke ich, auch sie wird sich für jemanden interessieren. Wird einen neuen Mann an ihre Seite nehmen. Mit dem sie ein Stück des Weges gehen wird.
Ich denke diesen Gedanken, versuche mir Marian an der Seite eines anderen vorzustellen. Eines Menschen, der sie glücklicher machen kann, als ich es konnte. Oder wenn er sie schon nicht glücklicher macht, denke ich, dann berührt er sie zumindest. Versorgt sie auf wohlwollende Art mit Zärtlichkeiten. Streichelt sie. Küsst sie. Und schläft mit ihr. Und auch wenn ich erwartet habe, dass ich Zorn fühlen werde oder Eifersucht, wenn ich daran denke, wie Marian sich einem anderen hingibt. Nein. Wie Marian sich einen anderen nimmt. Ich dachte, dieses Bild eines anderen in Marians Bett. Und beinahe hätte ich gesagt: in unserem Bett. Ein anderer Mann in ihrem Bett, dachte ich, würde mich aus der Fassung bringen. Der Gedanke an ihn, seinen Körper, sein Geschlecht und an Marian. Aber dieser Gedanke bringt mich nicht aus der Fassung. Ich fühle mich, wie ich mich schon den ganzen Tag gefühlt habe: verloren.
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