Shoppen und fischen
haben», sagte sie. «Ich bin in einer tollen Spielgruppe in der Kirche. Du wärst begeistert. Es könnte dich wirklich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen.»
«Ich will aber nicht auf den Boden gebracht werden. Ich will das Gegenteil. Ich will abhauen. Und ich kann auch nicht nach Indiana zurück. Das wäre ein solcher Abstieg. Weißt du – als würde ich aufgeben. Als löste ich meine letzten Chips ein, statt weiterzuspielen.»
«Okay.» Annalise kicherte gutmütig. «Ich hab’s kapiert. Wir wissen ja, dass wir kleine Fische sind, nicht wahr, Hannah?»
Hannah heulte.
«Du weißt schon, wie ich das meine», sagte ich. «Dir gefällt es dort, und das ist schön für dich. Aber ich bin einfach kein Kleinstadtmädel …»
«Du bist alles andere als ein Kleinstadtmädel.»
«Und außerdem spreche ich nicht mehr mit meiner Mutter.» Ich erzählte ihr, wie biestig sie auf meine Neuigkeit reagiert hatte.
«Warum fliegst du dann nicht nach London, zu Ethan?», fragte sie. Sie meinte Ethan Ainsley, unseren High-School-Freund, der in London lebte und irgendein Buch schrieb.
Und kaum hatte sie es ausgesprochen, wusste ich: Das war die Lösung. Es war so nahe liegend, dass ich mich erstaunt fragte, warum ich nicht gleich darauf gekommen war. Ich würde mein Apartment untervermieten und mich nach Good Ol’ England verziehen.
«Annalise, das ist eine wundervolle Idee.» Ich stellte mir vor, wie die anderen Wind von meinem transatlantischen Umzug bekamen. Claire, die sich für eine große Globetrotterin hielt, würde sich in den Hintern beißen. Marcus, der noch immer kein einziges Mal angerufen und sich nach mir erkundigt hatte, würde vor Schuld- und Reuegefühlen platzen, wenn er erfuhr, dass sein Kind Tausende von Meilen weit entfernt geboren werden würde. Rachel, die Ethan immer näher gestanden hatte als ich, würde meinen intensiven Kontakt mit ihrem lieben Kindheitsfreund eifersüchtig betrachten. Und Dex würde sich fragen, wie er eine so unabhängige, abenteuerlustige, schneidige Frau jemals hatte gehen lassen können.
Die Idee kam zur rechten Zeit. Jetzt musste ich nur noch Ethan überreden, mich bei sich aufzunehmen.
Ich kannte Ethan seit der vierten Klasse, als er mitten im Schuljahr in unsere Stadt gezogen war. Es gab immer Wirbel, wenn ein Neuer an die Schule kam; alles war aufgeregt bei dem Gedanken an frisches Blut. Ich erinnerte mich noch gut an Ethans ersten Tag. Unsere Lehrerin, Mrs. Billone, legte die Hand auf seine magere Schulter und verkündete:«Das ist Ethan Ainsley. Er kommt aus Long Island. Jetzt wollen wir ihn zusammen willkommen heißen.»
Wir alle murmelten: «Herzlich willkommen, Ethan», und ich fragte mich, wo seine Insel wohl liegen mochte – im Atlantik oder im Pazifik? –, und wie ein Junge aus den Tropen so helle Haut und so blondes Haar haben konnte. Ich sah Ethan vor mir, wie er halb nackt herumlief und an den Palmen hinaufkletterte, um zu jeder Mahlzeit Kokosnüsse zu pflücken. War er vielleicht von einem Suchtrupp gerettet worden? Zu Pflegeeltern nach Indiana gegeben worden? Vielleicht trug er heute zum ersten Mal richtige Kleider. Vermutlich war es eine Qual für ihn, sich so beengt zu fühlen.
In der Pause saß Ethan an diesem Tag auf dem Randstein beim Klettergerüst und kritzelte mit einem Stöckchen im Staub herum, während wir alle neugierige Blicke zu ihm hinüberwarfen. Alle andern waren zu schüchtern, um ihn anzusprechen, aber ich bestellte Rachel und Annalise an meine Seite, und zu dritt gingen wir auf ihn zu. «Hallo, Ethan. Ich heiße Darcy. Das ist Rachel, und das ist Annalise», sagte ich kühn und deutete auf meine beiden ängstlichen Begleiterinnen.
«Hallo», sagte Ethan und schielte durch seine übergroßen runden Brillengläser zu uns herauf.
Ich kam gleich zur Sache. «Und wie weit ist deine Heimat von hier weg?», fragte ich. Ich wollte alles über seine exotische Kindheit wissen.
«New York ist ungefähr achthundert Meilen von hier.» Er betonte jedes Wort klar und deutlich, und das ließ ihn sehr gescheit klingen. Das hatte ich von einem eingeborenen Insulaner nicht erwartet.
«New York?» Ich war verwirrt. «Aber Mrs. Billone hat gesagt, du kommst von einer Insel.»
Er und Rachel wechselten einen amüsierten Blick – die erste von vielen Demonstrationen ihrer Überlegenheit.
«Was ist daran so komisch?», fragte ich empört. «Sie hat doch gesagt, du kommst von einer Insel. Stimmt’s nicht,
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