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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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man fast zehn Jahre miteinander verheiratet ist, kann sich so eine kleine Vögelei am Nachmittag schon mal wie etwas Unerhörtes anfühlen. Und seit es die Kinder gab, war dieser Teil unserer Ehe gleichzeitig befriedigender und sehr viel spärlicher geworden. Als Partner, als Bettgefährten, haben wir uns mittlerweile viel besser aufeinander abgestimmt, uns mehr auf den Körper des anderen eingestellt. Wir wissen, was wir flüstern, schreien, worum wir flehen müssen. Aber es ist durchaus nicht so, als hätten wir jede Nacht Sex. Manchmal vergeht eine ganze Woche oder auch zwei. Besonders im Herbst, während der Erntezeit, wenn Henry immer erst spät abends nach Hause kommt, den ganzen Körper bis in die Nasenlöcher hinein mit Mais- und Lehmstaub verkrustet, jedes einzelne Haar von Dreck überzogen, die Augen müde und gerötet.
    Wir standen auf dem Bürgersteig, während die Stadt an uns vorbeirauschte. Als ich zu Henry hinüberschaute, konnte ich sehen, dass Schweißperlen auf seiner Stirn standen. Er hielt meine Hand noch fester.
    »Es gibt so viel zu sehen, oder?«, sagte er und lachte unbehaglich. Ich sah, wie er prüfend auf seine alte Armbanduhrschaute, deren Glas längst zerbrochen war. »Und?«, fragte er.
    »Lass uns in den Park gehen«, sagte ich.
    Er nickte. »Gute Idee.«
    Es blieben uns noch ein paar Stunden, bevor wir zu Chloe mussten. Also flanierten wir Richtung Norden, die Madison Avenue entlang, während unsere Hände immer verschwitzter wurden. Wir kamen an den riesigen Flagship-Stores der berühmten Labels vorbei und an schicken kleinen Boutiquen, und ich hatte plötzlich das Bedürfnis, einfach hineinzugehen und mir die Kleider, Anzüge, Schuhe, Bücher, Schals und all die anderen Dinge anzuschauen, die es bei uns in Little Wing nicht gab und auch niemals geben würde. Aber wie wir da so vor den Schaufenstern standen, mit unseren Turnschuhen und kurzen Hosen, und schwitzten, Henry mit der abgewetzten Baseballkappe der Milwaukee Brewers auf dem Kopf, dachte ich, es sei vielleicht doch besser, auf dem Bürgersteig weiterzulaufen und vor den Imbissbuden und Eiswagen stehen zu bleiben und die Menschen und Gebäude zu begaffen. Wir hatten nur eine ungefähre Vorstellung davon, wo wohl der Park sein mochte und von wo wir gekommen waren, und es war uns zu peinlich, jemanden nach dem Weg zu fragen. Also schlenderten wir einfach weiter.
    Im Park zog Henry sein Hemd aus und wir setzten uns darauf, schauten den Joggern und Jongleuren zu, den jungen Familien und den Hundebesitzern, die Frisbees warfen.
    »Ich schlaf mal ’ne Runde«, sagte ich zu Henry und legte meinen Kopf in seinen Schoß. Ich legte mir einen Arm über meine Augen, um sie vor dem Licht abzuschirmen.
    »Willst du meine Kappe?«
    »Nein«, sagte ich. »Die stinkt. Du musst sie dringend mal waschen.«
    »Nee«, sagte Henry, »die kann ich unmöglich waschen. Das wäre ein Sakrileg.«
    ...
    Während wir anderen uns mühsam durchs College oder eine zweijähre Ausbildung an der Berufsfachschule kämpften, gründete Lee immer wieder neue Bands, tourte durch den Mittleren Westen und die Atlantikküste hinauf, spielte in Bars, auf Partys von Studentenverbindungen und bei Talentwettbewerben. Immer mal wieder hörten wir aus irgendwelchen Quellen, wie es allmählich mit ihm bergauf ging, dass die ein oder andere Plattenfirma Interesse an einem Vertrag mit ihm bekundet hatte, dass irgendein Promi in Chicago oder Boston zu einem seiner Auftritte gekommen war und ihm zwischen Champagner und Kaviar irgendwelche Ratschläge erteilt hatte, aber nie schienen die Dinge richtig in Fahrt zu kommen, und mit jedem Jahr, das verging und das Lee älter wurde, schwand die Hoffnung, er könnte als Musiker Erfolg haben, ein wenig mehr.
    Seine Freunde – Henry eingeschlossen – verstanden ihn. Sie nahmen ihn in Schutz, ihn und seinen Traum. In überfüllten Collegeschlafsälen und verrauchten Studentenwohnungen, wo es nach verschüttetem Bier und abgestandenen Wasserpfeifen roch, spielten sie völlig fremden Menschen seine Demobänder vor, Menschen, mit denen wir nicht aufgewachsen waren, deren Eltern nicht jeden einzelnen lobenden Artikel, jede geschwätzig-hohle Kritik, die jemals über Lee veröffentlicht worden war, aus der Zeitung ausgeschnitten hatten.
    »Der wird mal richtig berühmt«, sagten sie dann immer. »Habt ihr das gehört? Habt ihr gehört, was er da gerade gemacht hat?« Ich sehe Henry immer noch vor mir, wie er hinüber zu der Stereoanlage geht

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