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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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und die Musik ein paar Takte zurückspult, die Lautstärke aufdreht und dann wieder auf die Playtaste drückt. »Da«, sagte er dann und zeigte auf die Lautsprecher. »Und da wieder. Hört ihr das? So darfst du eigentlich gar nicht Gitarre spielen. Du nimmst Gitarrenunterricht oder gehst an die Juilliard oder so’n Scheiß, und da treiben sie dir so was dann ordentlich aus. Aber das ist Wisconsin . Das ist der Winter , genau das da.«
    Nach dem College trennten Henry und ich uns für eine Weile. Das ist eine vornehme Umschreibung für die Tatsache, dass wir einfach mal Sex mit anderen Leuten haben wollten, obwohl unser Timing damals nie ganz synchron zu sein schien. Während ich in ihn verliebt war, interessierte er sich nur für Tara Monroe oder Rachel Howe. Schlampen , dachte ich damals. Und andersherum war es genauso: Wenn er in mich verliebt war, mich zurückhaben wollte, gab es Zeiten, da dachte ich, mir wäre vielleicht Cooper Carlson oder Bradley Aberle viel lieber. Oder Leland.
    Lee hatte gerade seine Band verlassen, eine Gruppe von Typen, die nicht aus Little Wing kamen, sondern aus einem nahegelegenen Ort namens Thorp. Sie waren ziemlich eng zusammengewachsen, hatten sogar eine Tournee durch Deutschland, Frankreich und England gemacht. Und sie waren im Begriff, ihren ganz eigenen Klang zu finden, ihn zurechtzuschleifen, etwas ganz Neues, etwas, das mir zunächst gar nicht gefiel oder das ich nicht recht zu würdigen wusste. Es klang nicht wie Lees Musik, oder zumindestnicht wie etwas, das ich als seine Musik erkannt hätte. Es war kalt, einsam und disharmonisch. Am ehesten kann ich es noch damit vergleichen, wie sich Schallwellen im Winter ausbreiten. Dann, wenn alles kalt und still ist. Wenn man erst mal gar nichts hört. Man kann sich nicht vorstellen, dass es dort draußen etwas gibt, das lebt, das sich bewegt. Und dann, wenn die eigenen Ohren sich daran gewöhnt haben, wenn man eine Weile gewartet hat, beginnt man die Krähen in den Baumwipfeln zu hören, das fast nicht mehr wahrnehmbare Geräusch ihres Flügelschlags, wenn sie durch die kristallene Luft gleiten. Und schließlich kommen noch weitere Geräusche hinzu: das weit entfernte Knarren einer Motorsäge, ein Automotor im Leerlauf, Eis, das sich gerade bildet, das Wasser eines Baches, das an eben diesem Eis vorüberplätschert, herabfallende Eiszapfen, Vogelgesang. Man braucht nur alle diese winzigen Geräusche miteinander zu verschmelzen und dann Lees unendlich traurige Falsettstimme darüberzulegen, und schon hat man eine Hymne, die jenen Flecken Erde besingt, von dem wir stammen.
    Er war deprimiert. Hatte sich ein Zimmer auf einer riesigen alten Farm außerhalb der Stadt gemietet. Niemand bekam ihn zu Gesicht; er war nie in der Stadt, ging nicht ins VFW. Er lebte wie ein Kojote, abseits der Zivilisation. Und ich redete gerade nicht mit Henry, also hörte ich keinen der üblichen Berichte aus erster Hand, die ich sonst immer bekam. Aber dann kam ein Brief bei meinen Eltern an, adressiert an mich, obwohl ich eigentlich nach dem Schulabschluss nach Wabasha in Minnesota gezogen war.
    »Ich konnte kaum die Schrift auf dem Umschlag lesen«, sagte meine Mutter am Telefon. »Es sieht so aus, als hätte ein Kind die Adresse geschrieben.«
    »Du hast ihn doch wohl nicht aufgemacht, oder?«, fragte ich nervös.
    »Hätte ich das tun sollen?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich komme nächste Woche nach Hause. Leg ihn bitte einfach in mein altes Zimmer.«
    In der nächsten Woche fuhr ich in meinem alten Pontiacnach Hause. Die Autoheizung funktionierte kaum noch. Ich musste beim Fahren immer einen Anorak, Handschuhe und eine Mütze tragen und dann noch lange Unterwäsche, für alle Fälle. Und an den Abenden, an denen es am kältesten war, musste ich oft anhalten und die Windschutzscheibe freikratzen, weil die Scheibenheizung nicht richtig funktionierte. Ich hatte in Wabasha zwei Jobs: Tagsüber war ich Empfangsdame in einem Friseursalon und abends kellnerte ich in einer Bar, in der es Brathähnchen und Bier gab. Meine Haare stanken ständig nach Brathähnchenfett, und das obwohl mir die Friseurinnen immer alle Gratisproben der Designershampoos und Pflegespülungen schenkten.
    »Honey«, sagten sie dann immer, »die meisten von uns kaufen sich teures Parfüm, um sich den Richtigen zu angeln. Du bist die einzige Frau, die uns je begegnet ist, die es damit versucht, wie ein Eimer extraknuspriger Chicken Wings zu riechen.«
    Ich kann mich nicht erinnern, dass dieser

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