Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
Vom Netzwerk:
geschlafen.« Hör auf zu reden.
    Henry stand auf, ging zwei Schritte auf mich zu und senkte sein Gesicht zu mir herab. Ich starrte auf den Bach hinaus, konnte seine Faust sehen, die er über meinem Kopf erhoben hatte, seinen heißen Atem auf mir spüren, den penetranten Geruch des Marihuanas an seinem ganzen Körper riechen.
    »Wer zur Hölle bist du?«
    »Es tut mir leid, Mann.« Das hier war ein übler Fehler.
    »Halt dich verdammt noch mal fern von uns, hörst du?«
    »Henry.« Warum hast du es bloß erzählt?
    »Wir sind fertig miteinander. Klar? Und ich möchte dich nie wieder in unserer Nähe sehen. Wir sind fertig miteinander.«
    Ich sah ihm nicht zu, wie er fortging, sah nicht, wie er die Böschung zu meinem Haus hochging, sah nicht, wie er einen Stein nahm und ihn mit großer Kraft geradewegs durch mein Küchenfenster warf. Sah nicht, wie er seinen alten Pick-up anließ und vom Haus wegfuhr und dabei mit den Schneereifen, die er gerade erst aufgezogen hatte, denKies gut dreißig Meter hinter sich durch die Luft katapultierte.
    Aber ich hörte es. Das zerbrechende Glas, die Wut des V8-Motors, die umherstiebenden Steine und Schlammspritzer. Und dann war es plötzlich sehr still im Wald und auf den Wiesen und im Himmel. Alles schien mich zu beobachten, darauf zu warten, dass ich mich bewegte. Und doch blieb ich weiter dort sitzen, in der Dunkelheit, und hatte Angst, etwas anderes zu tun, als zu atmen.

Mein Vater hatte keine Freunde. Er spielte in keinem Softballverein und er war auch nicht Mitglied in irgendeiner Bürgerinitiative. Wenn wir in die Kirche gingen, schüttelte er anderen Vätern die Hand. Ich kann mich noch genau daran erinnern, an seine kurzärmeligen Hemden im Sommer und seine marineblauen wollenen Anzugsjacken im Winter. Ich sehe ihn vor mir, wie er das Gesangbuch mit beiden Händen hält, damit ich den Liedtext auch lesen konnte. Seine Finger zeichneten die Noten nach, die weder er noch ich zu deuten wussten. Wir konnten allenfalls nachvollziehen, wenn die Musik in die Höhe ging oder wieder tiefer wurde. Sein Bariton und mein Sopran vereinten sich zu einem feierlichen, etwas verlegenen Brummgesang. Ich rieche heute noch sein Aftershave, spüre seine Hand auf meinem Nacken. An all das kann ich mich erinnern. Aber ich erinnere mich nicht, dass er irgendwelche Freunde gehabt hätte.
    Er war Farmer, genau wie ich es heute bin. Seine Herde, die er mit meiner Mutter zusammen melkte, umfasste jedoch nur ungefähr fünfzig Guernsey- und Jerseykühe, auch wenn das für die damalige Zeit schon ein recht großer Viehbestand war. Meine Herde ist auf mehr als das Doppelte angewachsen, und ich kann kaum noch Schritt halten, trotz Beths Hilfe. Trotzdem muss man sagen, dass ernoch viel härter gearbeitet hat als ich. Auch daran erinnere ich mich, wie er draußen im Melkstand war, die Hände unter dem Euter einer Kuh vergraben. Das war noch, bevor es diese ganzen neuen Maschinen gab, die ich jetzt habe. Aber auch mein Vater begann schon damit, sich seinen eigenen Maschinenpark anzuschaffen, als ich noch ein Teenager war. Ich erinnere mich an seine stark behaarten Unterarme und wie sie am späten Vormittag schon voller Motoröl und Achsenfett waren, von dem alten Traktor, an dem er andauernd herumreparierte. Und daran, wie er morgens in unserer Küche seinen Kaffee schlürfte und einen Teller Rührei aß. Wie er mittags über der Spüle stand, ein Sandwich mit Salami, Zwiebeln und Senf aß und über die Felder zur Scheune schaute, auf die Kühe, die dort draußen träge vor sich hin grasten. In solchen Momenten hatte er einen Blick in den Augen, der unmöglich zu deuten war. Es hätte der Ausdruck reinster Zufriedenheit sein können, aber genauso gut auch ein Schock, als hätte er gerade einen Geist gesehen und habe nun die unumstößliche Gewissheit, von einem bösen Spuk heimgesucht zu werden.
    Abends aßen wir immer schon früh, und meine Mutter sprach mit uns das immer gleiche Tischgebet. Nach dem Essen trug ich das Geschirr zum Spülen in die Küche, während Dad sich in seinen Lieblingssessel setzte, um die Abendnachrichten zu schauen. Dabei schüttelte er jedes Mal den Kopf und sagte traurig: »Ich weiß nicht mal, warum ich mir das überhaupt noch anschaue.«
    Er ist vor drei Jahren gestorben. Ich bin sehr froh, dass er unsere Kinder noch kennengelernt hat, dass ihm noch die Zeit blieb, mit ihnen zu spielen, sie im Krankenhaus im Arm zu halten, als sie gerade geboren waren. Ich weiß, dass er stolz

Weitere Kostenlose Bücher