Shutdown
Äußerungen im Netz wegzusperren, bevor es zu spät ist, wie es der Patriot Act im Grunde bereits vorsieht. Die Gesetze müssen griffiger werden. Der ›Cybersecurity Act‹ von 2012 war ein Schritt in die richtige Richtung, aber geblieben sind nicht viel mehr als schöne Definitionen und das endlose Gezerre um die Verantwortung zwischen dem zivilen Department of Homeland Security und dem Verteidigungsdepartement, insbesondere der National Security Agency. Senator Johnson bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, die Zeit schöner Reden sei vorbei, es sei jetzt Zeit zum Handeln. Jetzt müssen die Mittel bereitgestellt werden, um den chaotischen Verkehr auf dem Netz bei Bedarf innerhalb kürzester Zeit zu regulieren, notfalls nur noch für Behörden und etablierte Medien offenzuhalten oder das Netz ganz abzuschalten.«
»Abschalten ist das Stichwort«, sagte Jezzus und stellte das Radio ab.
Mit gerötetem Gesicht starrte er verbissen geradeaus und dachte nach. Die Finger trommelten im Stakkato aufs Lenkrad, verrieten, wie aufgewühlt er war. Jen verstand nicht viel von Politik. Sie wollte ihre grauen Zellen nicht mit unnötigem Ballast belasten, wie sie sich einredete, doch der wahre Grund lag im ›SNR‹, wie ihr Emma erklärt hatte. Im ›Signal-to-Noise-Ratio‹ der politischen Äußerungen. Der ›SNR‹ lag nahe bei null. Die Sprache der Politik bestand im Wesentlichen aus weißem Rauschen. Es war einfach zu aufwendig und ermüdend, die schwachen Signale vernünftiger oder gar wahrer Aussagen aus dem Müll herauszufiltern, den die Politiker von sich gaben, um ihre Position zu stärken und wieder gewählt zu werden. Nach dem Kommentar des Angstmachers im Radio zweifelte sie aber zum ersten Mal an ihrer Strategie der politischen Abstinenz.
»Was willst du dagegen tun?«, sagte sie leise, als fragte sie sich selbst.
Jezzus überlegte lange, bevor er antwortete. Schließlich zuckte er die Achseln und gab zu: »Ich weiß es nicht.«
»Die Leute aufklären im Netz, solang es noch möglich ist? ›Shitstorms‹ auf Twitter?«
»Ja sicher«, seufzte er. »Die Hoffnung bleibt, dass wir hin und wieder jemanden erreichen, der sein Hirn benutzt und sieht, wohin das alles führt, nämlich zum totalen Überwachungs- und Polizeistaat. Das Rechtssystem wird auf den Kopf gestellt. Es gilt die Schuldvermutung. Du bist grundsätzlich verdächtig und musst deine Unschuld beweisen. Good bye freie Meinungsäußerung, good bye Menschenrechte, good bye Demokratie. Hast du mitbekommen, was allen Ernstes in Washington diskutiert wird? Das Netz offenhalten für etablierte Medien!«
»Mit anderen Worten: Kritische Stimmen werden ausgeschlossen.«
»Du hast es messerscharf erkannt. Meinungsbildung bleibt den Extremisten wie Zach Rant vorbehalten. George Orwell lässt grüssen.«
»Wer?«
Er warf ihr einen verblüfften Blick zu. »Orwell, 1984, das Buch, der Film ...«
Sie hörte zum ersten Mal davon. Literatur und Geschichte waren weitere weiße Flecke auf ihrer geistigen Landkarte. Nicht, weil sie sich nicht dafür interessierte, sondern weil sie bisher fürs Überleben nicht notwendig waren. Aber das gehörte zur eigenen Vergangenheit, die sie endlich vergessen wollte.
»Nicht wichtig«, meinte Jezzus. »Wir erleben die Story ja gerade live.«
Das Wasser des Sees glitzerte zwischen den Bäumen. Über der Einfahrt zum ersten Parkplatz am Ufer hing ein handgeschriebenes Transparent mit der Aufschrift: Kein Trinkwasser – Die Entnahme aus dem See ist verboten! Auf dem Platz dahinter standen Polizeifahrzeuge und Privatautos. Eine Menge Leute ließen ihre Kanister mit Seewasser volllaufen und schleppten sie zu Dutzenden zu den Wagen. Polizisten halfen ihnen dabei.
»Alles Analphabeten«, grinste Jen.
Jezzus fuhr weiter in der Hoffnung auf einen Platz, wo sie schneller ans Wasser kamen. Auch diese Idee hatten schon alle andern vor ihm, wie sich bald herausstellte. Zwei Stunden dauerte die Irrfahrt, doch dann konnten auch sie endlich die vollen Kanister aufladen. In der Zwischenzeit bekam Jen einen Eindruck, wie sehr die Volksseele kochte. Die Leute, die sich hier mit dem Wichtigsten versorgten, was sie zum Leben brauchten, zeigten keine Anzeichen mehr von überlegener Coolness. Sie ärgerten sich nur noch und verschafften dem Ärger lauthals Luft. Ihr Zorn richtete sich gegen unfähige Behörden, vor allem aber gegen sie selbst und ihre Truppe. So empfand sie die verbalen Angriffe auf die unbekannten Hacker.
»Die Propaganda
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