Shutdown
auch er seine Zweifel hatte. Dennoch beschlossen sie, den entscheidenden Hinweis in den Briefkasten an der Sansome Street zu werfen.
San Francisco, Kalifornien
Carmen Tate schaute missmutig aus dem Fenster ihres improvisierten Büros in den Räumen der Lokalredaktion. In diese Niederungen drang kaum ein Sonnenstrahl. Es herrschte konstante Dämmerung. Die Atmosphäre deprimierte wie der Entwurf des Artikels über Ward auf dem viel zu kleinen Schreibtisch. Seit die Aufzüge stillstanden, setzte sie keinen Fuß mehr in ihre Suite auf der 19. Etage unter Dons Penthouse. Wie auch? Nun lag ihr persönlicher Assistent zu Hause im Bett und stellte sich krank. Unbrauchbar, tot wie der letzte Deli, der vor zwei Tagen aufgegeben hatte. Sie kannte nur einen Menschen, dem diese Zustände offenbar enorme Befriedigung verschafften: Don, das Monster. Er beobachtete die Entwicklung aus sicherer Entfernung und zeigte sich hoch erfreut über den Umschwung der politischen Wetterlage. Die Kritiker von ›PACTA‹ waren verstummt bis auf einige verzweifelte Rufer in der Wüste. Die Gesetze, die seinem ›Trusted News‹ Imperium massive Vorteile bei der Nutzung der modernen Kommunikationsmittel verschaffen würden, waren auf gutem Wege. Die Proteststürme im Internet bezeichnete er als gegenstandslos, die Twitterer als irrelevant. Mit den neuen Gesetzen würde dieser Unsinn sowieso bald enden. »Wir sollten den Hackern dankbar sein«, mahnte er allen Ernstes. Die Zukunft sah rosig aus für Dons Konzern, während die Welt um sie herum aus den Fugen geriet. Zugegeben, Dons Blütezeit bedeutete auch für sie fette Boni und eine neue Jacht, aber Geld konnte man, verdammt noch mal, nicht essen. Sie kehrte zum Schreibtisch zurück, zerrte alle Schubladen auf in der Hoffnung, wenigstens ein paar alte ›Pistachios‹ oder ›Smarties‹ zu finden. Sie stank, der Schreibtisch stank, das schummrige Büro stank, die Zeitung stank, und sie hatte eine Stinklaune. Passend für die Besprechung mit Kiki, die übrigens auch stank, seit es kein Wasser mehr gab, um sich anständig zu duschen.
»Du wolltest mich sprechen?«, fragte die Redakteurin von der ›Post‹.
Carmen warf ihr die Fahne mit dem Artikel über den verstorbenen Ward hin. »Sagte ich nicht, dass alles über meinen Tisch läuft, was irgendetwas mit ›CGO‹ zu tun hat?«
Kiki errötete, zwang sich jedoch, ruhig zu antworten. »Deshalb liegt der Artikel doch auf deinem Tisch.«
»Ja, aber nicht nach dem fertigen Layout. Was soll ich damit? Abnicken?«
»Du kannst ihn ablehnen ...«
»Sei nicht albern! Was kaust du da?«
»›Hershey’s‹.«
Carmen erblasste. »Woher hast du die – gibt’s noch mehr davon?«
»Spare in der Zeit, so hast du in der ...«
»Verdammt, willst du mich umbringen?«
Der Blick, den Kiki ihr zuwarf, bedeutete soviel wie: keine schlechte Idee. Sie zog einen halben Schokoriegel aus der Tasche.
»Du willst mich also umbringen«, knurrte Carmen. Gierig streckte sie die Hand aus. »Zehn Bucks für die Ruine!«
»Zwanzig«, grinste Kiki, während sie den Riegel in sicherem Abstand hielt.
Der Anblick der winzigen Kalorienbombe schaltete Carmens Verstand aus. Ohne Widerrede zog sie zwei Zehner aus der Tasche und warf sie auf den Tisch.
»Du spinnst«, lachte Kiki. Sie schob das Geld weg und legte den angebissenen Snack dazu. »Was ist jetzt mit dem Artikel?«
Carmen schlang den süßen Bissen hinunter und leckte sich genussvoll die Lippen, bevor sie antwortete. »Wards Rolle wird nicht klar aus dem Text. Ist er Täter oder Opfer? Unsere Leser wollen Klarheit, keine Grauzonen. Die überlassen wir der lahmen Konkurrenz. Die Hacker sind die Täter, das muss viel deutlicher werden. Der Cyberkrieg ist eröffnet, der Krieg gegen die Cyberkrieger. Das wollen wir unbedingt rüberbringen.«
»Wollen wir – wer ist wir?«
Sie blickte die Redakteurin verblüfft an. »Don, ich, wir alle, was ist los mit dir?«
»Ach ich weiß nicht, ich glaube, die Schuldfrage ist den Lesern im Moment ziemlich gleichgültig. Alle wollen nur noch, dass der Albtraum endlich ein Ende hat.«
»Das mag stimmen für die Leute hier«, gab sie zu. »du vergisst allerdings die Kleinigkeit, dass unser Unternehmen nicht nur aus der Lokalredaktion besteht. Wir müssen im ganzen Land konsistent auftreten, sonst verlieren wir rasch an Glaubwürdigkeit.«
»Glaubst du?«, murmelte Kiki.
Das spöttische Zucken um ihre Mundwinkel reizte Carmen zu einer scharfen Antwort, doch ein
Weitere Kostenlose Bücher