Shutdown
Polizisten, Ex-County–Sheriff und Kriminalkommissar a. D., ausgerechnet. Bei ihm würde sie sich sicher fühlen, denn er hatte ihr schon einmal das Leben gerettet. So einfach war das.
Weiß getüncht mit roten Fensterläden und einem Blumengärtchen an der Straße, sah das Haus um einiges einladender aus als die Fabrik. Das ganze Viertel machte ein zufriedenes Gesicht, anders als die Gegend, wo sie herkam. Trotzdem sehnte sie sich jetzt schon zurück. Die brutale Veränderung schmerzte mehr, als sie sich eingestehen wollte.
»Suchen Sie jemanden?«, fragte die etwas rauchige Stimme, die sie nie vergessen würde.
»Ja, dich«, lächelte sie.
Der kräftige Mann mit dem schlohweißen Haar stutzte. Er sah genauer hin, dann erkannte er sie.
»Jen!«, rief er freudig. Ich kann’s nicht glauben – die kleine Jen.«
Kopfschüttelnd musterte er sie von oben bis unten, bis die Überraschung seinem bärbeißigen Humor wich.
»Siehst aus, als hättest du lange nichts gegessen. Wie geht’s dir?«
»Ganz gut«, log sie. »Kann ich das Zeug vielleicht irgendwo ...«
»Selbstverständlich, komm herein.«
Er nahm ihr den Sack ab. In diesem Moment sprang die Haustür auf, und eine junge Frau trat heraus. Sie warf Jen forschende Blicke zu, als sie vorbeiging.
»Bis morgen, Frank«, sagte sie, bevor sie die Straße überquerte.
War sich der eingefleischte Junggeselle selbst untreu geworden? Die Überraschung musste auf ihrem Gesicht zu lesen sein.
»Dana, meine Haushälterin«, grinste Frank. »Sie nimmt ihre Arbeit sehr genau, kommt jeden Tag, um nachzusehen, ob ich noch lebe, verrechnet aber nur jeden Zweiten.«
Warum wohl? , fragte sie sich, doch sie hielt sich zurück und schwieg. Die Handschrift der perfekten Hausfrau war überall zu sehen. Die Schuhe standen stramm ausgerichtet im Gestell, Jacke und Regenmantel hingen kunstvoll an Bügeln wie bei Armani im Schaufenster und die Zeitung lag in zwei Hälften gebündelt auf dem Kaffeetisch. Das Gelesene unten, der Rest quer darüber, vermutete sie.
»Was ist los?«, fragte er irritiert, als er ihr Schmunzeln bemerkte.
»Nichts, alles cool.«
»Setz dich. Wasser?«
Ohne auf die Antwort zu warten, holte er ein Glas und stellte es vor sie hin.
»Und jetzt will ich hören, was du die letzten zehn Jahre getrieben hast, oder sind es zwölf?«
»Zwölf Jahre, sieben Monate.«
Sie fasste sich kurz, überließ es seiner Fantasie, sich ihre Zeit im Heim auszumalen. Ihr Job in der Fabrik war einfach ein Programmierjob, sie eine IT-Spezialistin, zurzeit stellenlos. Was sie sagte, stimmte. Sie würde ihn niemals anlügen. Frank musterte sie nachdenklich. Er fragte sich wahrscheinlich, was sie ihm alles verschwieg, hakte aber nicht nach. Sie brauchte ihm nicht zu sagen, was sie von ihm wollte. Der Seesack war deutlich genug.
»Jetzt suchst du eine Bleibe, stimmt's?«
Sie nickte. »Nur vorübergehend. Ich brauche etwas Ruhe, muss noch eine Arbeit erledigen.«
Dabei tätschelte sie die Computertasche, die sie noch keine Sekunde aus den Händen gegeben hatte.
»Also doch nicht stellenlos?«
»Private Nachforschungen, so etwas. Unbezahlt aber wichtig.«
Sie dachte an die Daten von ›CGO‹ auf ›Titan‹, die sie noch nicht ausgewertet hatte. Die Erinnerung an die Fabrik kehrte schlagartig zurück und drohte sie zu ersticken. Ihr blieb kaum Zeit, das Taschentuch hervorzuziehen, bevor der Hustenanfall einsetzte.
»Entschuldige«, krächzte sie und griff zum Wasserglas.
Der rote Rand war nicht zu übersehen, als sie es wieder hinstellte.
»Du blutest!«, rief Frank erschrocken.
Es war wieder soweit. Die verfluchten Narben wollten nicht verheilen. Immer wieder brach das Gewebe in ihrem Gaumen auf. Sie wischte sich hastig die Lippen ab, schob die Tasche aufs Sofa und eilte zum Kleidersack.
»Verdammt, Jen, du blutest aus dem Mund. Was ist los? Das ist gefährlich. Du musst zum Arzt.«
»Halb so schlimm.«
Sie wühlte, bis sie die Packung mit den Tabletten fand. Es blieben nicht mehr viele übrig. Sie reichten noch für zwei Anfälle. Zwei Wochen, zwei Monate, wenn sie großes Glück hatte. Sie machte eine geistige Notiz, neue zu besorgen, da entfuhr ihr ein Fluch. Das Medikament erhielt sie nur gegen Rezept, und der falsche Doktor, der ihr die falschen Rezepte ausgestellt hatte, war jetzt mit dem Pick-up nach Süden unterwegs. Daran hatte sie nicht gedacht. Verärgert schluckte sie zwei Pillen und trank das Glas leer.
»Das passiert dir öfter«, stellte Frank
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