Shutter Island
Taschentuch. Teddy wischte sich über Stirn und Mund und ließ es zu Boden fallen.
»Helfen Sie mir bitte, Marshal«, sagte Cawley.
Sie hievten Teddy vom Stuhl. Vor sich sah er eine schwarze Tür.
»Erzählen Sie’s keinem«, sagte Cawley, »da hinten ist ein Zimmer, in dem ich manchmal ein Nickerchen halte. Na gut, einmal täglich. Wir bringen Sie da rein, Marshal, und Sie schlafen sich gesund. In zwei Stunden sind Sie wieder quietschfidel.«
Teddy sah seine Hände über den Schultern der Männer hängen. Sie sahen lustig aus, seine Hände, als gehörten sie nicht zu ihm. Und die Daumen, auf denen war diese optische Täuschung. Was war das, verdammt noch mal? Er hätte gerne darübergekratzt, aber Cawley öffnete die Tür, und Teddy warf einen letzten Blick auf die Flecken an seinen Daumen.
Schwarze Flecken.
Schuhcreme, dachte er, als er in das dunkle Zimmer geführt wurde.
Wie um alles in der Welt kommt Schuhcreme an meine Daumen?
12
ES WAR DER schlimmste Traum, den er je gehabt hatte.
Am Anfang ging Teddy durch die Straßen von Hull, Straßen, durch die er von der Kindheit bis zum Mannesalter unzählige Male gelaufen war. Er kam an seiner alten Schule vorbei. Er sah den kleinen Gemischtwarenladen, wo er früher Kaugummi und Brause gekauft hatte. Er lief vorbei am Haus der Dickersons und Pakaskis, an den Murrays, den Boyds, den Vernons, den Constantines. Aber niemand war zu Hause. Nirgends war jemand. Sie war leer, die gesamte Stadt. Und totenstill. Er hörte nicht einmal das Meer, und in Hull konnte man das Meer immer hören.
Es war furchtbar: Er war in seiner Heimatstadt, und alle waren fort. Er setzte sich auf den Hafendamm an der Ocean Avenue, suchte den leeren Strand ab und wartete, aber es kam niemand. Alle waren tot, wurde ihm klar, längst tot, längst verschwunden. Er war ein Geist, nach Jahrhunderten in seine Geisterstadt zurückgekehrt. Sie war nicht mehr da. Er war nicht mehr da. Es gab kein Hier.
Als nächstes fand er sich in einem großen Marmorsaal voller Menschen und Liegen und roter Infusionsbeutel wieder, und sofort ging es ihm besser. Es war egal, wo er sich befand, Hauptsache, er war nicht allein. Drei Kinder – zwei Jungen und ein Mädchen – kreuzten seinen Weg. Alle drei trugen Krankenhaushemden, und das Mädchen hatte Angst. Es umklammerte die Hände seines Bruders. Es sagte: »Sie ist hier. Sie wird uns finden.«
Andrew Laeddis beugte sich vor und gab Teddy Feuer. »Hey, nicht nachtragend sein, Junge.«
Laeddis war ein abgrundtief hässliches Exemplar von Mann: ein schlaksiger, verwachsener Körper, ein schmales Gesicht mit vorspringendem Kinn, doppelt so lang wie üblich, schiefe Zähne, ein blonder Haarbüschel auf einem schorfigen rosa Schädel. Dennoch freute sich Teddy, ihn zu sehen. Laeddis war der einzige im Raum, den er kannte.
»Hab mir ’ne Flasche besorgt«, sagte Laeddis, »falls du dir später einen genehmigen willst.« Er zwinkerte Teddy zu, klopfte ihm auf den Rücken und wurde zu Chuck, und das war völlig normal.
»Wir müssen los«, sagte Chuck. »Die Uhr tickt, mein Freund.«
»Meine Stadt ist leer«, sagte Teddy. »Keine Menschenseele da.«
Und er begann zu laufen, denn da war sie: Rachel Solando. Kreischend lief sie mit einem Hackebeil durch den Saal. Ehe Teddy bei ihr war, hatte sie die drei Kinder gepackt, das Hackbeil ging hoch und runter, hoch und runter, und Teddy erstarrte, sonderbar fasziniert, denn er wusste, dass er in diesem Moment nichts tun konnte. Diese Kinder waren tot.
Rachel sah zu ihm auf. Ihr Gesicht und ihr Hals waren blutbefleckt. Sie sagte: »Hilf mir!«
»Was?«, sagte Teddy. »Ich könnte Ärger bekommen.«
»Hilf mir, dann werde ich Dolores«, sagte sie. »Dann bin ich deine Frau. Dann kommt sie zurück.«
»Na klar«, sagte er und half. Irgendwie gelang es ihnen gemeinsam, die drei Kinder hochzuhieven und durch die Hintertür nach draußen zum See zu tragen. Sie warfen sie nicht ins Wasser, sondern gingen vorsichtig mit ihnen um. Sie ließen sie ins Wasser gleiten, und die Kinder gingen unter. Einer der Jungen kam wieder hoch, fuchtelte mit der Hand, und Rachel sagte: »Ist schon in Ordnung. Er kann nicht schwimmen.«
Sie standen am Ufer und sahen zu, wie der Junge versank, dann legte Rachel Teddy den Arm um die Hüfte und sagte: »Du sollst mein Jim sein. Ich bin deine Dolores. Wir machen neue Babys.«
Das war völlig einleuchtend, und Teddy fragte sich, warum er nicht schon früher darauf gekommen war.
Er folgte
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