Shutter Island
Nachsicht sind die ersten Opfer des Fortschritts. Das ist nichts Neues. Überhaupt nichts Neues. Das ist schon immer so gewesen.« Cawley hob den Kopf. »So viele mächtige Freunde ich auch habe, ich habe genau so viele mächtige Feinde. Menschen, die mir mein Werk entreißen möchten. Das kann ich nicht kampflos hinnehmen. Verstehen Sie das?«
»O ja, das verstehe ich, Doktor Cawley«, sagte Teddy.
»Gut.« Cawley ließ die Arme sinken. »Und was war mit diesem Kollegen?«
»Welcher Kollege?«, gab Teddy zurück.
Als Teddy ins Wohnheimzimmer ging, war Trey Washington dort. Er lag im Bett und las eine alte Ausgabe des Magazins Life .
Teddy warf einen Blick auf Chucks Bett. Es war gemacht worden, Bettbezug und Decke waren glattgezogen. Nie wäre man auf die Idee gekommen, dass dort zwei Nächte zuvor jemand geschlafen hatte.
Teddys Uniformjacke, sein Hemd, die Krawatte und Hose waren aus der Wäscherei zurück und hingen unter Plastikhüllen im Wandschrank. Er zog die Pflegerkleidung aus und seine Uniform an. Trey blätterte durch die Hochglanzseiten.
»Wie geht’s Ihnen so, Marshal?«
»Ganz gut.«
»Schön. Schön.«
Teddy merkte, dass Trey seinem Blick auswich, die Augen auf die Zeitschrift gerichtet hielt, immer wieder dieselben Seiten umschlug.
Teddy packte den Inhalt seiner Taschen um und schob Laeddis’ Aufnahmeformular zusammen mit dem Notizbuch in die Jackeninnentasche. Er nahm gegenüber von Trey auf Chucks Bett Platz, band seine Krawatte, schnürte die Schuhe und blieb dann schweigend sitzen.
Wieder blätterte Trey um. »Soll heiß werden morgen.«
»Ja?«
»Richtig schweineheiß. Patienten können die Hitze nicht vertragen.«
»Nein?«
Trey schüttelte den Kopf, blätterte um. »Nein. Werden ganz zappelig und so. Morgen Abend kommt noch der Vollmond dazu. Macht alles noch schlimmer. Können wir überhaupt nicht gebrauchen.«
»Wieso?«
»Wieso was, Marshal?«
»Wieso macht der Vollmond alles schlimmer? Glauben Sie, er macht die Leute verrückt?«
»Das weiß ich sogar.« Mit dem Zeigefinger fuhr Trey über einen Knick in der Zeitschrift und glättete ihn.
»Wie kommt das?«
»Na, wenn man drüber nachdenkt – Ebbe und Flut hängen vom Mond ab, oder?«
»Ja.«
»Der Mond hat so eine Art Magnetwirkung aufs Wasser oder so.«
»Kann schon sein.«
»Das Gehirn«, erklärte Trey, »besteht zu mehr als fünfzig Prozent aus Wasser.«
»Ohne Quatsch?«
»Ohne Quatsch. Wenn man sich vorstellt, dass der alte Mann im Mond ganze Meere umleitet, was kann er dann wohl alles mit dem Kopf anstellen?«
»Wie lange sind Sie schon hier, Mr. Washington?«
Trey nahm den Finger von der Seite und blätterte um. »Oh, schon lange. Seitdem ich ’46 aus der Armee gekommen bin.«
»Sie waren bei der Armee?«
»Ja, war ich. Ich wollte ein Gewehr, und was habe ich bekommen? Einen Kochtopf. Hab mit schlechtem Essen gegen die Deutschen gekämpft.«
»Das Essen war echt der letzte Dreck«, bestätigte Teddy.
»Und was das für ’n Dreck war, Marshal. Hätten die uns mitmachen lassen, wär es schon ’44 vorbei gewesen.«
»Da widerspreche ich Ihnen nicht.«
»Sie sind wohl überall gewesen, was?«
»Ja. Hab die ganze Welt gesehen.«
»Und, was halten Sie davon?«
»Verschiedene Sprachen, aber überall derselbe Mist.«
»Tja, das stimmt wohl, was?«
»Wissen Sie, wie mich der Direktor heute Abend genannt hat, Mr. Washington?«
»Nein, wie denn, Marshal?«
»Einen Nigger.«
Trey blickte von der Zeitschrift auf. »Was hat er?«
Teddy nickte. »Er hat gesagt, es gäbe auf der Welt zu viele Menschen von niederem Schlag. Lumpengesindel. Nigger. Zurückgebliebene. Er meinte, ich wäre für ihn nur ein Nigger.«
»Das hat Ihnen nicht gefallen, was?«, schmunzelte Trey, doch erstarb das Lächeln schnell auf seinen Lippen. »Aber Sie wissen ja nicht, was es heißt, ein Nigger zu sein.«
»Das ist mir klar, Trey. Aber dieser Mann ist Ihr Chef.«
»Ist nicht mein Chef. Ich arbeite fürs Krankenhaus. Der weiße Teufel, der leitet das Gefängnis.«
»Ist trotzdem Ihr Chef.«
»Nein, ist er nicht.« Trey stützte sich auf den Ellenbogen. »Verstanden? Ich meine, ist das jetzt ein für alle Mal klar, Marshal?«
Teddy zuckte mit den Schultern.
Trey schwang die Füße aus dem Bett und setzte sich auf. »Wollen Sie, dass ich sauer werde?«
Teddy schüttelte den Kopf.
»Warum sind Sie dann nicht zufrieden, wenn ich Ihnen sage, dass ich nicht für den weißen Schweinehund arbeite?«
Abermals
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