Shutter Island
aufeinanderstoßen, sind die Drähte noch tot. Wenn Sie die anderen anfassen, werden Sie gegrillt wie ein Hähnchen, also nicht ausrutschen und anfassen. Verstanden?«
»Verstanden.«
Trey nickte seinem Spiegelbild zu. »Ich würde sagen, Sie hauen jetzt ab. Zeit wird knapp.«
Teddy erhob sich. »Und Chuck?«, fragte er.
Trey sah ihn wütend an. »Es gibt keinen Chuck. Verstanden? Hat’s nie gegeben. Wenn Sie’s nach Hause schaffen, können Sie so viel von Chuck reden, wie Sie wollen. Aber hier hat’s den Mann nie gegeben.«
Als Teddy vor der südwestlichen Ecke der Mauer stand, kam ihm in den Sinn, dass Trey gelogen haben könnte. Wenn der Draht Strom führte und Teddy ihn anfasste, dann würde man seine Leiche am Morgen unten vor der Mauer finden, verkohlt wie ein altes Steak. Problem gelöst. Trey wird der Angestellte des Jahres und bekommt eine schöne Golduhr geschenkt.
Teddy suchte einen langen Zweig und peilte den Draht rechts von der Ecke an. Er nahm Anlauf, sprang hoch und schlug mit dem Zweig gegen den Draht. Er sprühte Funken, der Zweig fing Feuer. Teddy betrachtete das Holz in seiner Hand. Die Flamme erlosch, das Holz glomm weiter.
Dann holte er tief Luft und sprang an der linken Wand hoch, schlug abermals auf den Draht. Es geschah nichts.
Oben auf dem Mauerwinkel stand ein Metallpfosten. Teddy brauchte drei Anläufe, dann bekam er ihn zu fassen. Er hielt sich fest und kletterte auf die Mauer. Seine Schultern berührten den Draht, seine Knie berührten den Draht, seine Unterarme berührten den Draht, und jedes Mal dachte er, er sei tot.
Doch er lebte. Und musste sich nur noch langsam auf der anderen Seite hinunterlassen.
Er stand im Laub und sah sich nach Ashecliffe um.
Er war gekommen, um die Wahrheit zu finden, aber es war ihm nicht gelungen. Er war gekommen, um Laeddis zu finden, und auch das hatte er nicht geschafft. Und nebenbei hatte er Chuck verloren.
In Boston würde er Zeit haben, das alles zu bedauern. Sich schuldig zu fühlen und zu schämen. Die Möglichkeiten abzuwägen, sich mit Senator Hurly zu beraten und sich einen Angriffsplan zurechtzulegen. Er würde wiederkommen. Bald. Das stand außer Frage. Und hoffentlich hätte er dann Vorladungen und Durchsuchungsbefehle dabei. Dann bekämen sie ihre eigene verfluchte Fähre. Dann wäre er zornig. Er wäre gerecht in seinem Zorn.
Jetzt hingegen war er einfach nur erleichtert, zu leben und auf der anderen Seite der Mauer zu sein.
Erleichtert. Und voller Angst.
Er brauchte eineinhalb Stunden für den Weg zur Höhle, aber die Frau war nicht mehr da. Das Feuer war zur Glut hinuntergebrannt. Teddy setzte sich davor, obwohl die Luft draußen für die Jahreszeit sehr warm war und stündlich feuchter wurde.
Er wartete in der Hoffnung, die Frau sei lediglich neues Holz holen, aber im tiefsten Herzen wusste er, dass sie nicht zurückkehren würde. Vielleicht glaubte sie, er sei längst gefasst und würde genau in diesem Augenblick dem Direktor und Cawley ihr Versteck verraten. Und vielleicht – die Hoffnung war zu vermessen, aber Teddy gönnte sie sich – hatte Chuck die Frau gefunden und war mit ihr an einen Ort gegangen, den sie für sicherer hielt.
Als das Feuer erlosch, zog Teddy seine Jacke aus und legte sie sich über Brust und Schultern. Den Kopf lehnte er gegen die Wand. Genau wie in der vergangenen Nacht fiel sein Blick vor dem Einschlafen auf seine Daumen. Sie hatten begonnen zu zucken.
VIERTER TAG Der schlechte Seemann
20
ALLE TOTEN UND vielleicht Toten bekamen ihre Mäntel ausgehändigt.
Sie waren in einer Küche, die Mäntel hingen an Haken, und Teddys Vater nahm seine alte Kapitänsjacke, schob die Hände durch die Ärmel und half danach Dolores in ihren Mantel. Dann sagte er zu Teddy: »Weißt du, was ich mir zu Weihnachten wünsche?«
»Nein, Dad.«
»Einen Dudelsack.«
Und Teddy wusste, dass er damit Golfschläger und Golftasche meinte.
»So wie Präsident Eisenhower, was?«, sagte er.
»Genau«, erwiderte sein Vater und reichte Chuck seinen schweren Mantel.
Chuck zog ihn an. Es war ein schönes Stück. Vorkriegskaschmir. Chucks Narbe war verschwunden, aber er hatte noch immer diese zarten, geliehenen Hände. Er hielt sie Teddy vors Gesicht und wackelte mit den Fingern.
»Bist du mit dieser Ärztin unterwegs gewesen?«, fragte Teddy.
Chuck schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich viel zu gut erzogen. Ich bin beim Rennen gewesen.«
»Gewonnen?«
»Viel verloren.«
»Tut mir Leid.«
»Verabschiede
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