Sibirische Erziehung
sprach, doch wenn er mal was sagte, dann stimmte es fast immer. Einmal war ich drei Tage mit ihm beim Fischen, und in den drei Tagen hat er keinen einzigen Ton von sich gegeben, ich schwöre, nicht einen einzigen.
Gagarin gab das Signal, uns »bereitzumachen« und das Lokal zu verlassen. Alle steckten die Hände unter den Tisch und klack-klack-klack hörte man das Geräusch der Pistolenmagazine.
Mel stieß mich an, ich solle die Pistole nehmen, die er mir hinhielt, aber ich lehnte mit gleichmütigem Gesicht ab.
»Wenn sie dich umbringen«, meinte er, »dann schiebe ich dir dein unnützes Messer in den Arsch.«
Ich lächelte nur geheimnisvoll.
Wir verabschiedeten uns von Mino, der uns beschwor, den Notausgang zu nehmen, aber wir gingen durch den Haupteingang hinaus, durch den wir gekommen waren.
Auf dem kleinen Platz vor dem Lokal warteten etwa fünfzehn Mann unter der Straßenlaterne auf uns.
Mel und Gagarin gingen vor, danach kamen ich und der Stumme, dann die übrigen. Ich sah, wie Mel seine Tokarew zog und Gagarin im gleichen Moment die Hand mit der Makarow hinter seinem Rücken versteckte. Ich hatte die Hand in der Tasche und umklammerte die Nagant von Großvater Kusja.
Sie hatten uns den Weg zu den Autos versperrt. Unsere Fahrer hatten sich auf die Motorhaube gesetzt und rauchten in aller Ruhe.
Ein paar Meter vor den Georgiern blieben wir stehen.
Der dünne Typ, ihr Anführer, trat vor und sagte herausfordernd:
»Mit euch ist es aus, hier kommt ihr nicht mehr weg.«
Er schien sich seiner Sache sehr sicher. Er hatte eine Pistole in der Hand, und hinter ihm stand einer mit einer Doppelflinte.
»Wenn ihr keinen Ärger wollt, habt ihr nur eine Möglichkeit: Die Waffen weg, und dann ergebt euch.«
Dann fing er auch noch an zu witzeln:
»Seid ihr nicht noch ein bisschen zu klein, um mit Pistolen zu spielen?«
Gagarin erklärte ihm völlig gelassen den Grund unseres Besuchs und betonte, dass es nichts mit den Beziehungen zwischen Georgiern und Sibirern zu tun hatte, und er erinnerte ihn:
»Nach dem kriminellen Gesetz wird in solchen Fällen der Krieg unterbrochen.«
Er verwies auf Sankt Petersburg, wo während der Suche nach einem Pädophilen, der kleine Kinder vergewaltigte und tötete, der blutige Krieg zwischen der Bande aus dem Ligowka-Viertel und der von der Wassiljew-Insel ausgesetzt worden war, um gemeinsam den Triebtäter zu jagen.
Die Georgier waren verwirrt.
Während Gagarin zu ihrem Anführer sprach, ließen viele die Waffen sinken, ihre Gesichter waren nachdenklich geworden, erste Anzeichen für eine Niederlage, die ihnen nur mit Worten zugefügt worden war, ohne Einsatz von Waffen.
Der Anführer der Georgier wollte sich noch nicht geschlagen geben.
»Aber warum«, fragte er plötzlich, »habt ihr euch dann nicht an unseren Wart gewandt? Warum habt ihr euch wie die Schlangen hereingeschlichen?«
Auf der einen Seite hatte er recht, wir hätten zu ihrem Wart gehen müssen, denn es verstieß gegen die kriminellen Regeln, hinter seinem Rücken Nachforschungen anzustellen. Aber zwei Dinge hatte er nicht bedacht.
Erstens: Wir waren Minderjährige, und nach dem Gesetz durfte man von uns nichts »fordern«, nur andere Minderjährige hätten von uns etwas »erbitten« können, die Erwachsenen hatten keinerlei Recht über uns. Aus Respekt und wenn es uns passte, konnten wir die Regeln des kriminellen Gesetzes der Erwachsenen befolgen, aber solange wir nicht volljährig waren, gehörten wir auch nicht zur Verbrechergemeinschaft. Hätte zum Beispiel ein Wart unseren Fall einer alten Autorität vorgetragen, hätte der ihn einfach ausgelacht. Unter den Sibirern sagt man in solchen Fällen: »Die Jungen sind wie die Katzen, sie gehen, wohin sie wollen.«
Der zweite Fehler des Georgiers war wesentlich schlimmer und bewies, dass er wenig Erfahrung im Verhandeln hatte und nichts von krimineller Diplomatie verstand: Er hatte uns beleidigt.
Beleidigung gilt bei allen Gemeinschaften als typischer Fehler der Schwachen und Dummen, die keine Verbrecherwürde besitzen. Für uns Sibirer ist jede Art vonBeleidigung ein Verstoß, während es in anderen Gemeinschaften Abstufungen gibt, aber im Allgemeinen ist eine Beleidigung der direkte Weg, wenn man ein Messer in den Bauch kriegen will.
Die Beleidigung eines Einzelnen kann je nach den Umständen »gebilligt« werden: Wenn ich jemanden beleidigt habe und mich dafür vor einer Autorität verantworten muss, dann muss ich ihm den Grund für die Beleidigung
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