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Sibirisches Roulette

Sibirisches Roulette

Titel: Sibirisches Roulette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Peitschenschnur zischte durch die Luft, und diesmal traf sie. Sie klatschte auf den linken nackten Schenkel Nasarows. Mit einem wilden Aufschrei hüpfte er in die Luft, ein verrückter Anblick war es: oben die Uniform, unten eine beachtenswerte Nacktheit. Jugorow ließ die Peitsche wieder schwingen.
    »Das für Marta Jakowna, die Frau des Schreiners Kabanow.«
    Nasarow brüllte und hielt die Hände vor sein Geschlecht. Genau dahin war der Schlag gelangt – ein Schmerz, kaum noch erträglich, durchglühte seinen Körper.
    »Zwei kleine Kinder hat die junge Marfa … ohne die Mutter leiden sie Not …«
    Zweimal sauste der Lederriemen durch die Luft, traf Nasarow an Wange und Brust und ließ ihn schwanken.
    »Und jetzt Beljakow … wieviel Schläge ist er wert? Doch nein, nein … erst etwas im Gedenken an den armen Kulinitsch. Kniet da, weint bettelnd um Gnade, kriecht auf den Knien zu dir hin, und du hebst die Hand und läßt Beljakow auf ihn schießen. In den Rücken, mit Schrot, aus nächster Nähe. Zerfetzt war der Rücken … aber zerfetzen kann man auch mit einer Peitsche …«
    Ein neuer Schlag, ein zweiter, blitzschnell darauf der dritte … wieder auf den nackten Unterkörper, quer über den Unterleib … Nasarows tierisches Gebrüll hallte durch den Wald, und Maja Petrowna hielt sich die Ohren zu und drückte das Gesicht noch tiefer in die Decke.
    Jugorow kannte keine Gnade mehr. In seinem ganzen Leben war ihm ums Herz nicht so kalt gewesen wie jetzt, und so würde es auch nie wieder sein, das wußte er. Nur einmal, einmal in dieser Stunde, war er nicht mehr Jugorow, nicht mehr der ›Spezialist‹, der niemals gegen Menschen, sondern immer nur gegen Material kämpfen wollte.
    Und plötzlich schrie auch Jugorow, bei jedem Schlag schrie er, trieb Nasarow mit der Peitsche vor sich her, rundherum in dem kleinen Viereck zwischen den Büschen, die zitternde Maja Petrowna umkreisend. Und während Nasarow jetzt stumm blieb, weil es Schmerzen gibt, die man nicht mehr hinausschreien kann, die einem die Zunge lähmen, die keinen Atem mehr lassen – steigerte sich Jugorows Schreien, als sei es seine eigene Qual, als träfen ihn selbst die Peitschenhiebe.
    »Das ist für Lebedewka … und das für Walja … und das für Maja, die Getretene … und das für mich …«
    Nasarow stolperte, hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzufangen, fiel, rollte über die Erde und blieb liegen. Die Augen in seinem blutenden, von den Peitschenhieben entstellten Gesicht, bettelten Jugorow stumm an.
    »Jetzt sind wir bei Beljakow angelangt«, sagte Jugorow. Auch er atmete schwer. Schweiß rann über sein Gesicht, aber innerlich spürte er keine Wärme. »Ich frage wieder: Wieviel ist er wert? Zehn, zwanzig, dreißig?«
    Nasarow krümmte sich auf der Erde, rollte sich zusammen und biß in seine geballte Faust. Er schlägt mich tot, dachte er, er schlägt mich tatsächlich tot … er … Und auf einmal liefen ihm dicke Tränen über die Wangen, zogen die Bahnen der Striemen entlang und tropften auf seinen Hals. Jugorow sah sie, mit weiten Augen, überwältigt von dem Anblick, erstarrt vor dem Ungeheuren: Nasarow weint. Nasarow kann weinen. Weil er an den Tod denkt, weint Nasarow …
    Jugorow ließ die Peitsche sinken und wandte sich ab. Er konnte es nicht mehr, unmöglich war es ihm, auf einen weinenden Menschen einzuschlagen, auch wenn er Nasarow hieß. Ein Mensch, der weint, dem ist die Seele aufgebrochen. Hat Nasarow eine Seele?
    Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ Jugorow den Platz, ging schnell zu seinem Jeep zurück, warf die Peitsche mit dem blutigen Lederriemen auf den Rücksitz, sprang in den Wagen und fuhr, als hetze man ihn die Straße hinunter, nach Lebedewka.
    Ich habe ihn nicht getötet. Nein, ich tat es nicht. Ich konnte es nicht, weil er weinte … Ich bin nicht zum Mörder geworden, aber eines habe ich voller Schrecken erkannt: Auch ich, Jugorow genannt, könnte mich in einen Mörder verwandeln. Einen Mörder sogar, der von seiner Tat behauptet: Es geschah zu Recht, im Auftrag der Gerechtigkeit.
    Frieren läßt einen diese Erkenntnis. Gibt es überhaupt irgend etwas auf dieser unserer Erde, zu dem ein Mensch NICHT fähig ist …?
    Daß Nasarow noch lebte, war für Jugorow eine ständige tödliche Bedrohung. Er gab sich da keinen Illusionen hin. So klar, wie der Morgenhimmel über ihm war, wußte er: Die Welt ist so klein geworden, daß nur noch für einen Platz sein kann – für Nasarow oder für ihn. Endgültig war

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