Sibirisches Roulette
Auch zum heiligen Antonius kamen sie.«
»Franziskus!« brüllte Schagin dann. »Du lernst es nie! Hol Salz, Pfeffer und Salbei …« Es wurde stets ein gut gewürzter Braten.
Nur an der Schlinge durfte Wassja nicht erwischt werden!
Die Nacht hatte schon einen Hauch von Morgenlicht bekommen, als Wassja ohne Beute nach Hause tappte. Da hörte er plötzlich von weitem Geräusche, die nicht in die Nacht paßten. Witternd wie ein Wild hob er die Nase und konnte ein Rasseln feststellen, einen merkwürdigen Ton, als wenn jemand immer gegen Eisen schlägt.
Noch nie hatte Wassja einen Panzer gesehen, wo denn auch? Nur aus Büchern kannte er die gepanzerten Kästen mit den Kanonen darauf. Auf Bildern hatte er sie oft bestaunt. Und vor vier Jahren war aus Tobolsk ein Filmwagen gekommen, eine große Leinwand wurde auf dem Dorfplatz aufgespannt, und dann sahen die Lebedewkaner einen langen Film vom Vaterländischen Krieg, in dem die Deutschen reihenweise erschossen wurden und die tapferen Rotarmisten mit Urräh-Geschrei die Nazis vor sich hertrieben. Und Panzer waren in der Schlacht. Hunderte Panzer mit flammenden und zuckenden Kanonen, und wenn sie mit ihren Kettenrädern über das Schlachtfeld fuhren, dann hatte es genauso gerasselt wie jetzt in der Ferne bei Lebedewka.
Ein Panzer! Ein Panzer kam nach Lebedewka. Im Morgengrauen. War denn wieder Krieg? Hatten die Nazis wieder Mütterchen Rußland überfallen? Warum hatte denn Väterchen Schagin nichts von diesem Krieg gesagt? Wußte er es selbst nicht … und jetzt kamen die Panzer nach Lebedewka …?
Wassja machte einen Satz in die Luft, warf sich herum und rannte ins Dorf zurück. Am ersten Haus, es gehörte dem Friseur Koskanjan, einem Armenier – Gott wußte, wieso er gerade nach Lebedewka gekommen war und nun allen die Haare und Bärte schnitt –, hämmerte Wassja gegen die Tür, bis die Koskanjana durch die Läden brüllte:
»Besoffene Sau, zieh weiter!«
»Panzer kommen!!« schrie Wassja mit seiner hellen, durchdringenden Tenorstimme. »Panzer … Ist denn Krieg?«
Die Tür flog auf, Koskanjan stürzte auf die Straße und brauchte nicht lange zu lauschen, man hörte es jetzt sehr deutlich in der sonst lautlosen Nacht. Kettengeräusche …
Wie von einer Bremse gestochen raste Koskanjan ins Haus, zog sich an und schob beim Hinauslaufen Wassja zur Seite. »Versteck die Gewehre!« schrie er noch der Koskanjana zu. »Unter den Dielen, du weißt schon!« Dann war er weg, einen Knüppel in der Hand, lief er von Haus zu Haus, schlug dröhnend gegen die Läden und brüllte ohne Unterbrechung:
»Panzer! Panzer! Panzer! Panzer!«
Das halbe Dorf war bereits hellwach, als die Kolonne von Major Nasarow das erste Haus, also Koskanjans Haus, erreichte. Die Soldaten sprangen aus den Lastwagen, die Kalaschnikows feuerbereit in den Händen, rannten hinter dem langsamer fahrenden Panzer die Straße hinunter, immer weniger werdend, denn vor jedem Haus brachen drei Mann aus der Linie aus, stürmten darauf zu und traten ohne Zögern die Türen ein. Wie im Krieg, wie man es im Film gesehen hatte … Wassja stand mit offenem Mund da, mit rotem Wasserkopf und begriff in diesen Augenblicken nicht, was er sah. Er begriff nur eins: Das waren keine Nazisoldaten das waren Rotarmisten, unsere Brüder, und sie traten die Türen der Häuser ein und vor ihm quietschte die Koskanjana wie ein Schwein, das man an den Hinterbeinen hochzieht, um es abzustechen.
Plötzlich schlug ihn jemand auf den Kopf, gab ihm einen Tritt, und als er sich umdrehte, stand ein Soldat vor ihm, mit wütendem Blick und einem eckigen Gesicht, und schrie ihn an:
»Die Arme hoch, du Mißgeburt! An den Zaunpfahl zurück. Rühr dich nicht!«
Wassja gehorchte, aber Tränen schossen ihm in die Augen; er verstand es einfach nicht, warum sie ihn so behandelten, die eigenen Brüder Soldaten. Nichts getan hatte er ihnen, aber sie schlugen ihn und hielten ihre Maschinenpistolen auf seinen Kopf. Genossen, erklärt mir doch mal, was hier los ist …
In allen Häusern brannten nun die Lichter, trieben die Rotarmisten die Bewohner auf die Straße. Alle mußten sie die Arme hoch über den Kopf heben, mit den Gewehrkolben wurden sie geschlagen, zusammengetrieben wie ausgebrochene Rinder. Die Weiber kreischten, weil die Soldaten ihnen an die Brüste faßten, die Kinder schrien, und die ganz Alten – auch sie trieb man aus den Häusern auf die Straße – setzten sich einfach vor die Zäune, und der uralte Jakimenkow sagte
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