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Sibirisches Roulette

Sibirisches Roulette

Titel: Sibirisches Roulette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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furchtlos: »Nun tus doch schon, mein Jüngelchen. Schieß. Zweiundneunzig bin ich geworden, da hat man lang genug gelebt.«
    Aber sie schossen nicht, sie drohten nur mit ihren Kalaschnikows. Mit den stählernen Kolben stießen sie jeden in Rücken oder Hüfte, den Frauen mit breitem Grinsen in die Brüste, und als der Färber Dangolow seiner Frau zu Hilfe eilte und einem Soldaten in den Leib trat, prügelten die Rotarmisten so lange auf ihn ein, bis er besinnungslos zusammenbrach und eine Blutlache sich unter ihm ausbreitete.
    Major Nasarow war bis vor die Kirche gefahren und stieg dort aus. Die Kirchentür brauchte man nicht einzuschlagen, sie war Tag und Nacht offen für jeden, der Gott suchte. Aber Schagin saß da, vor der Ikonostase, in seinem langen Priestergewand, ein Mann voll Würde und innerer Ruhe.
    Nasarow blieb in der Tür stehen und starrte ihn an. Rund um Schagin flackerten die Kerzen und ließen die goldenen Ikonen aufzucken und die Gesichter der Heiligen lebendig werden.
    »Raus!« sagte Nasarow laut. »Hinaus zu den anderen! Die Popen sind die schlimmsten. Sie brüten die giftigen Eier aus! Wo sind die Waffen?!«
    »Hier ist eine Kirche, mein Sohn!« antwortete Schagin würdevoll. »Gott der Herr kennt nur eine Waffe: die Liebe.«
    Nasarow war kein gläubiger Mensch, wer hätte das auch erwartet? Von Kindesbeinen an hatte er unter staatlicher Schulung gestanden, und alles, was nach Weihrauch roch, verursachte bei ihm Übelkeit. Ein Nihilist war er, nur an eines glaubte er: an die unsterbliche Idee des Kommunismus.
    »Ich kann dich holen, Pope!« sagte er drohend.
    »Dann tu es, Bruder Major …«
    »Wenn einer weiß, wer die Verbrecher gegen den Staat sind, dann bist du es!« schrie Nasarow. Langsam kam er näher, drohend, die Hand an den Griff der schweren Pistole, der Tokarev, gelegt. Aber vor den Stufen zur Ikonostase blieb er wieder stehen, und so standen sie sich nahe gegenüber, Auge in Auge – der eine bereit, im Zorn zu töten; der andere bereit, in Demut zu sterben.
    »Zum letztenmal frage ich dich, du Volksfeind …«, sagte Nasarow heiser.
    »Ich bin kein Volksfeind, Bruder Major; zu mir kommt das Volk! Was willst du wissen? Namen, Verstecke von Waffen, Pläne …?«
    »Wie gut du mich verstehst, Pope!«
    »Wer könnte dich überhören? Nur, du fragst den Falschen.«
    »Glaubst du?«
    »Eine ganz falsche Frage; ich glaube an Gott.«
    »Dein ganzes Dorf Lebedewka steht auf der Straße, vor den Häusern, die Hände im Nacken. Männer, Frauen, Kinder. Nicht ein einziger hat sich davonmachen können. Alle haben wir. Alle! Und einer von ihnen wird alles hinausschreien, wenn wir ihn fragen. Fragen auf unsere Art …«
    »Aus trockenem Boden kann man kein Wasser schöpfen«, sagte Schagin ruhig.
    »Und mit Pfaffensprüchen kann man einen Mann zum Kotzen bringen!« Nasarow betrat die erste Stufe zur Ikonostase. Begann jetzt der wirkliche Angriff? Schagin straffte sich und blickte den Major angstlos und mutig an. Was wird er tun, dachte er. Mich am Bart hinab in die Kirche reißen, seine Faust in mein Gesicht schlagen, mich in den Magen treten … ›Herr im Himmel, laß mich stark genug sein, wie es deine Märtyrer waren. Laß keinen Laut über meine Lippen kommen. Erlöse mich schnell von den Qualen, die kommen werden …‹
    Aber Nasarow ging nicht weiter, stieg nicht die beiden letzten Stufen hinauf. Sein erstaunlich angenehmes Gesicht, das gar nicht zu seinem Wesen paßte, war überzogen von einem triumphalen Grinsen. So bösartig kann nur ein Mensch lächeln, der den Sieg seiner Infamie in den Händen hält.
    »Schließen wir ein Geschäft ab, Pope«, sagte er. »Für jeden aus deinem Dorf, der ein Geständnis ablegt, bekommst du zehn Schläge mit einem dicken nassen Weidenstock. Man wird dich zu Hackfleisch schlagen, wette ich.«
    »Des Herrn Wille ist unergründlich«, antwortete Schagin schlicht.
    »Mein Wille ist es!« schrie Nasarow.
    »Ein einseitiges Geschäft, Bruder Major.« Schagin griff nach seinem Brustkreuz, als gäbe es ihm Stärke und Mut, ging die Stufen zu Nasarow hinunter und stellte sich neben ihn. Fast gleich groß waren sie, aber stämmiger schien Nasarow zu sein. »Ich bekomme die Schläge, wenn unter uns ein Saboteur ist – aber was bekomme ich von dir, wenn es hier keinen Saboteur gibt?«
    Verblüfft war Nasarow, das kann man sagen. In die Mitte der Kirche ging er zurück und blieb dort breitbeinig stehen, blickte sich rundum und machte dabei auch eine

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