Sibirisches Roulette

sagen, warum wir nicht zu den Geiseln fahren? Na? Nicht wissen soll ich, wo das Versteck ist.«
    »Auch das ist ein Grund.«
    »Sind wir nicht Freunde, Krasnikow? Hast trotzdem kein Vertrauen zu mir? Das könnte mich beleidigen.«
    »Igor Michailowitsch, sieh das anders.« Krasnikow legte die Hand auf Jugorows Arm. »Je weniger Menschen wissen, wo die Geiseln leben, um so besser für sie. Man könnte sich verplappern … auch du. Hat Walja dir nichts erzählt?«
    »Nein! Was soll sie mir erzählen?«
    »Wo die Geiseln sind.«
    »Das weiß sie?« Jugorow riß die Augen auf, er war selbst überwältigt von seinem Staunen. »Nichts hat sie gesagt. Liebt mich und ist doch verschlossen. Weh tut das.«
    »Frag sie mal, wo die Geiseln leben. Wundern wirst du dich.« Krasnikow warf seine halb gerauchte Papirossa weg. »Fahr zurück, Igor. Meteljew wird nach Hause finden …«
    Aber Meteljew kam nicht mehr zurück. Am nächsten Tag begann, wie damals bei Masuk, eine große Suchaktion. Schon am frühen Morgen. Nur suchten dieses Mal ein Bataillon Rotarmisten und zweihundert Arbeiter der Baubrigade. Die Leute von Lebedewka gingen ihrer Arbeit nach, als sei nichts geschehen. Wenn es noch Spuren gegeben hatte, so waren sie von Korolew, Goldanski und Rudenko auf ihrem Rückweg von Meteljews ›Bestattung‹ – ein Moorstück in der Nähe der Stelle, wo auch Masuk ›begraben‹ lag – beseitigt worden. Außerdem stand schon beim Morgendämmern Goldanski mit einem Traktor vor dem verwachsenen Pfad zum Schwarzen Haus, verdeckte diesen Einschlupf und hatte den sumpfigen Boden mit den neuen Spuren seiner dicken Traktorräder aufgerissen.
    Krasnikow hatte lange gezögert, ehe er über die gegen Abhörversuche gesicherte Verbindung mit Moskau sprach. General Tjunin war gerade vom Frühstück gekommen, hatte zwei Eier gegessen und dazu ein saftiges Stück Räucherlachs. Damit das nicht so sehr im Magen drückte, goß er ein Gläschen grusinischen Kognak hinterher. So etwas belebt, der Tag sieht sofort freundlicher aus.
    »Aha! Meine beiden Knaben!« rief er gutgelaunt, als sich Krasnikow vom Tobol meldete. »Was ist zu melden? Kommt ihr weiter?«
    »Wir haben es erreicht, Genosse General«, sagte Krasnikow und wischte sich dabei über die Stirn. Er sah Tjunin im Geiste, wie er zusammenzuckte und sich vorbeugte. Er sah ihn ganz deutlich vor sich und hätte in dieser Minute heulen können.
    »Was habt ihr?« schallte Tjunins Stimme im Hörer. »Krasnikow, verschonen Sie mich mit Rätseln.«
    »Oberleutnant Meteljew ist dem ›Spezialisten‹ begegnet.«
    »Gratuliere!« Es war, als jauchze Tjunin auf. Meine Jungs, dachte er. Meine besten SPEZNAS. Ich wußte es doch. Was das KGB nicht schafft, die GRU erledigt es. Wir sind immer da, wo andere nicht weiterkommen. »Er ist tot?«
    »Ja. Ich vermute es …«
    »Vermuten? Was heißt das?« Tjunins Stimme wurde scharf. Sein aufwallender Triumph fiel in sich zusammen.
    »Er ist verschwunden. Spurlos verschwunden. Seit gestern morgen.«
    »Der ›Spezialist‹ ist verschwunden?« bellte Tjunin.
    »Nein, Genosse General«, sagte Krasnikow mit umflorter Stimme. »Meteljew.«
    Eine lange Zeit, Krasnikow kam sie unendlich vor, schwieg Tjunin, als habe die Nachricht ihn niedergestreckt. Als er wieder sprach, war seine Stimme außergewöhnlich leise.
    »Berichten Sie weiter, Krasnikow. Wie ist das geschehen?«
    »Oberleutnant Meteljew fuhr am Sonntag morgen mit einem Fahrrad zur Kirche von Lebedewka …«
    »War er betrunken? Meteljew zur Kirche?«
    »Er glaubte, eine Spur zu sehen. Über die befreiten Geiseln … wo die sind, dort muß man auch den ›Spezialisten‹ finden, sagte er. Nach dem Gottesdienst wollte er beobachten, ob einige der Dorfbewohner – auch Walja Borisowna, die Ärztin der Baubrigade, hatte er im Verdacht – zu den Geiseln gehen.«
    »Diese Ärztin kannte das Versteck?«
    »Meteljew nahm es an. Aber die Genossin Ärztin kehrte nach dem Gottesdienst zum Lager zurück. Mit Jugorow, ihrem Freund, habe ich von Mittag an Schach gespielt.«
    »Sie haben Meteljew allein gehenlassen?« Tjunins Stimme hob sich gefährlich. »Spielen Schach, während man ihn umbringt …«
    »Meteljew wollte die Spur allein aufnehmen, Genosse General«, sagte Krasnikow glaubwürdig, »und nicht etwa eine Einzelaktion starten. Er hatte die feste Absicht, zurückzukommen, und dann hätten wir gemeinsam unseren Auftrag erfüllt. So war's ausgemacht. Aber … Meteljew kam nicht wieder. Mehr als fünfhundert