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Sibirisches Roulette

Sibirisches Roulette

Titel: Sibirisches Roulette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Hungernder in aller Welt.« Schemjakin hielt erschüttert den Atem an und seufzte dann, ehe er weitersprach: »Das muß man begreifen, Jugorow, das muß einfach jeder begreifen lernen. Das ist so einmalig auf der Welt, daß jeder Russe stolz sein muß. Aber was tun unsere Brüder? Sie legen Bomben, überfallen Geologen, sprengen die begonnenen Trassen in die Luft, morden und brennen … Warum bloß? Warum?«
    »Es geht um mehr, hab' ich gelesen«, sagte Jugorow vorsichtig. »Alle europäischen Staaten protestieren. Das Klima wird sich ändern. Die Küsten werden unter Wasser stehen. Rußland gewinnt zwar Millionen Hektar Neuland, dafür gehen in Europa Millionen Hektar in den Meeren unter.«
    »Würde Europa fragen, was aus Rußland wird, wenn es Projekte hätte, die Rußland schädigen könnten? Nicht eine Maus würde sich darum kümmern, sag' ich dir. Jugorow, ich stehe zu dem Projekt.«
    »Auch wenn es einen dritten Weltkrieg auslöst?«
    »Wer läßt es soweit kommen? Erwärmung des Nordpols, weil ein Teil des Ob nach Süden fließt? Weißt du, wie das ist! Wird's wärmer in deinem Zimmer, wenn du ein Streichholz ansteckst? Merkst du die Wärme? Sieben Prozent seines Wassers werden vom Ob in den Kanal geleitet; das sind drei Tausendstel der gesamten Wärmemenge, welche die Ob-Bucht erwärmt. Davon soll der Pol schmelzen? Nein, man gönnt Rußland nicht den Aufbruch in das Jahr zweitausend, in dem die Welt anders aussehen wird. Reicher, gesünder, friedlicher, brüderlicher als heute. Nahrung für alle Völker – und Ende des Kapitalismus.«
    Jugorow schwieg. Worüber sollte man noch diskutieren? Hier war der russische Traum, endlich, nach Jahrhunderten, durch den weithin noch ungenutzten riesigen Reichtum Sibiriens jene Stellung in der Welt zu erlangen, die ihm gebührte – und da war die übrige Welt, die auf diesen Riesen blickte, fasziniert, erschrocken und voller Angst, vor dieser Fülle aus dem Osten nicht allein wirtschaftlich, sondern auch politisch und ideologisch überrollt zu werden. Bei den Sowjets, so heißt es ja, ist alles politisch – vom Hosenknopf bis zur Atomrakete. Sagte nicht Bismarck schon warnend: »Laßt den Bären schlafen«? Aber der Bär schlief nicht mehr … nach Hunderten von Jahren Schlaf wachte das immer rätselvoll bleibende Land dort hinten im Osten jetzt auf. Der Bär erkundete seine Heimat und fand sie schöner und reicher als alle anderen Länder dieser Erde.
    Sibirien, die schönste, geheimnisvollste, reichste Prinzessin war wachgeküßt und gebar eine neue Welt.
    Mütterchen Erde … Mütterchen Rußland …
    Und alles um sie herum erstarrte in Schrecken.
    Wer konnte Schemjakin nicht verstehen, daß er jetzt mit gerötetem Gesicht hier an seinem Tisch saß, mitten in der Wildnis am Tobol, ergriffen von den Zukunftszahlen, die er vorgelesen hatte, und voll Bitterkeit, daß niemand begreifen wollte oder auch nur konnte, welch eine geradezu heilige Pflicht es war, Rußland zum Fundament einer neuen, besseren Zukunft zu machen.
    Noch vieles las Schemjakin an diesem Abend aus der klugen Broschüre vor, eine Menge Propaganda, an die er glaubte, aber auch eine Fülle von Tatsachen, die zum Teil seiner Arbeit geworden waren. Erst spät fand Jugorow wieder nach Hause. Walja hatte noch mit ihrer Krankenkartei zu tun. Bis zur Tür seiner Wohnung begleitete sie ihn, und Jugorow beobachtete erstaunt, daß Krasnikow mit dem deutschen Kübelwagen aus dem Lager fuhr.
    »Er fährt nachts weg?« fragte Jugorow mehr sich selbst als Walja. Die Rücklichter verglommen in der Ferne. »Meteljews Tod muß für ihn ein Schock gewesen sein. Er kann nicht mehr schlafen neben Meteljews leerem Bett.«
    »Er jagt …« Walja legte den Kopf gegen die Schulter des Geliebten. »Er hat zu mir gesagt: Jetzt jage ich …«
    »In der Nacht?!«
    »Er jagt den ›Spezialisten‹.«
    In Jugorow spannte sich jeder Muskel. Er blickte in die Dunkelheit, in der das Rücklicht des Wagens erloschen war, und wußte, daß es nun wirklich eine Jagd war, kein Gedankenspiel, keine taktische Überlegung, nicht einmal mehr das lauernde Warten auf einen Zufall. Der offene Kampf hatte begonnen. Jugorow spürte, wie ihn eine quälende Furcht beschlich – nicht um sein eigenes Leben, sondern Furcht davor, daß er schon bald gezwungen sein könnte, einen Menschen zu töten. Eine bedrückende Vorstellung, die seinen Herzschlag veränderte. Krasnikow, brich dir den Hals, ertrinke im Sumpf, tu alles zu deiner Vernichtung, was

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