Sibirisches Roulette
jedem Schritt: Ist es richtig, was ich tue? Warum hat Major Nasarow nicht vorher angerufen? Kopf und Kragen kostet es mich, wenn ich hier reinfalle auf einen Trick. Aber andererseits – was sucht eine Ärztin halb in der Nacht bei uns, wenn sie nicht bestellt ist, wenn sie keinen höheren Auftrag hat? Eine verzwickte Situation, in die du da kommst, Mamjelew …
Vor einem Zelt, das von zwei Soldaten bewacht wurde, blieben sie stehen. Walja Borisowna wartete darauf, daß nun etwas geschah, aber niemand rührte sich.
»Was ist, Genosse Leutnant?« fragte sie streng. »Soll ich durch die Zeltleinwand behandeln?«
»Ich werde die Gefangenen einzeln herausrufen lassen.«
»Und hier im Freien ziehen sie sich aus, untersuche ich sie, verbinde sie … Leutnant Mamjelew, was sind Sie für ein Mensch?! Nein! Ich gehe hinein, und Sie bleiben draußen!«
»Unmöglich, Genossin Ärztin. Auch Sie dürfen nicht allein zu den Gefangenen.«
»Ich habe Frauen zu untersuchen! Sollen sie sich vor Ihnen entblößen?«
»Es mag unanständig klingen, Genossin … aber ich habe schon mehr als eine nackte Frau gesehen.« Mamjelew grinste verhalten. »Man kann sich umdrehen. Das müßte genügen.«
Er ging zum Zelteingang, hob den Eingangslappen hoch und nickte. Mit einem etwas ängstlichen Gefühl, sie leugnete es nicht, betrat Walja das Zelt.
Trübes Licht schlug ihr entgegen, ein beißender Gestank von Urin und Kot und Schweiß. Zwei offene Plastikeimer standen an der linken Wand, randvoll mit Exkrementen; sie liefen bereits über, und eine stinkende Brühe umgab sie. Auf der blanken Erde, rund an der Zeltwand, hockten oder lagen die zehn Geiseln; sie sprangen auf, als Walja hereinkam und man Leutnant Mamjelew erkannte, und sofort fing Marfa Jakowna, die junge, hübsche Frau des Schreiners Kabanow, an zu schreien: »Unschuldig bin ich. Glaubt mir es doch, liebe Brüder und Schwestern! Unschuldig! Was wollt ihr von mir? Habe doch nichts verbrochen! Was soll ich euch sagen? Habt Mitleid … einen Säugling hab' ich zu Hause … drei Kinderchen im ganzen … Was habe ich denn getan?«
Zwei junge Burschen rissen sie zurück, drückten ihr die Hände auf den schreienden Mund und schoben sie zur Zeltwand zurück. Dafür begann Svetlana Victorowna, Masuks Frau, zu jammern, fiel auf die Knie, hob flehend die Hände zu Walja und weinte. Was sie stammelte, verstand niemand, aber auch sie wurde von den anderen Geiseln weggezogen und gegen die Wand gedrückt.
»Welch eine Pestbrut!« sagte Leutnant Mamjelew hinter Walja. »Sehen Sie sich das an! Die bescheißen ihr Zelt … Wo ist da noch Menschenwürde?«
»Wenn man Ihnen die Würde nimmt, Genosse Leutnant, bescheißen auch Sie Ihren Platz. Warum hat man die Eimer nicht ausgeleert?«
»Befehl von Major Nasarow.« Mamjelew hob die Schultern. »Fragen Sie ihn, nicht mich.«
»Sieh an!« sagte eine Stimme aus dem Hintergrund, über den ein dämmriger Schatten lag. Das Licht der kleinen Lampe drang nicht bis in alle Ecken des Zeltes. »Die Ärztin! Die Tochter des großen Schemjakin. Gehört zu denen, die uns vernichten wollen. Haben wir's uns doch gedacht. Kommt ins Dorf und bietet uns Hilfe an. Und was ist sie? Eine von denen, die man anspucken sollte. Komm her … näher heran … laß dich in die Augen spucken … ja, in die schönen Augen … Leidensgenossen, nicht zögern … Spuckt sie an …«
Leutnant Mamjelew schob sich vor Walja und legte die Hand an den Griff seiner Pistole. »Nur zu!« schrie er. »Nur zu. Jedem ins Maul schieße ich, der es wagt …« Und zu Walja sich umdrehend, fragte er: »Na, reicht es Ihnen jetzt, Genossin? Wollen Sie noch immer behandeln? Sind sie es nicht wert, daß man sie einfach verfaulen läßt?«
»Sie verstehen nichts, Leutnant, gar nichts«, sagte Walja und ging um Mamjelew herum. Mit einer Stimme, die merkwürdig weich und sanft klang, wandte sie sich an die Geiseln. »Wer will mich anspucken? Warum aus der Dunkelheit? Komm vor, hier vor mich hin … oder bist du nur ein armseliger Lippenheld? Ein kleiner Feigling?«
Aus dem Schatten löste sich eine Männergestalt und kam heran. Mamjelew zog seine Pistole und schob mit dem Daumen den Sicherungsflügel nach oben. Ein leises Aufstöhnen kam von den anderen Gefangenen.
Es war Andrej Nikolajewitsch Beljakow; der Mann, den Major Nasarow gezwungen hatte, den armen Soldaten Kulinitsch zu erschießen. Das Gesicht vom geronnenen Blut verschmiert, voller Striemen und Beulen, mit einem zugeschwollenen
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