Sibirisches Roulette

Karte zusammen und wedelte sich damit Luft zu, obgleich es nicht warm im Zimmer war. Ein trüber Spätsommertag in Moskau kann schon kühl sein. »Sehen wir davon ab, daß wir Freunde sind … mich reizt die Aufgabe, diesen unsichtbaren Einzelgänger in die Hand zu bekommen. Wer befehligt die Truppe in Tobolsk?«
    »General Gennadi Alexandrowitsch Pychtin.«
    »Sehr gut. Ein vorzüglicher Truppenführer. Ich nehme sofort Verbindung mit Pychtin auf. Morgen früh fliegt das Sonderkommando von Swerdlowsk nach Tjumen und dann weiter in das Sumpfgebiet von Lebedewka. Ein kleines Kommando, Valentin. Nur drei junge Offiziere. Aber zu den besten gehören sie. Einen Einzelgänger jagt man nicht mit einer Meute, sondern mit seiner eigenen Taktik … mit Einzelkämpfern.«
    »Das kommt mir vor wie ein Glücksspiel, Anatoli, wie ein Roulettespiel.«
    »Nennen wir es so.« General Tjunin nickte und klopfte mit dem Knöchel erinnernd an die leere Kognakkaraffe. »Ein sibirisches Roulette … das wird es werden …«
    »Sie sehen, es geht nicht weiter, Genossin«, sagte der Fahrer des Lastwagens, stellte den Motor ab und stemmte die Beine gegen das Bodenblech der Kabine. »Nicht glauben wollten Sie es. Erklären Sie nun den Rotarmisten, warum wir hier stehen. Genug Ärger wird es geben.«
    Die drei Wachposten waren an den Wagen getreten, Maschinenpistolen schußbereit in den Händen. Einer von ihnen riß die Wagentür auf, richtete den Lauf auf den Fahrer und brüllte sofort:
    »Umkehren, du gehörntes Vieh! Kann nicht lesen, der Froschäugige, aber Autofahren. So weit sind wir schon! Was steht da hinten auf dem Schild, he? Steig aus, los. Raus aus dem Wagen und lauf hin und lies es laut vor. Heb deinen Hintern hoch, du Karnickelbock!«
    Der Fahrer kniff die Lippen zusammen, wackelte erregt mit der Nase und lehnte sich etwas zurück. Erst jetzt sahen die Posten, daß noch ein Mädchen im Wagen saß, eine lederne Tasche auf den Knien; eine Sanitätstasche, wie es deutlich an den aufgeklebten Plaketten zu sehen war.
    Von jeher empfindet der Russe eine tiefe Hochachtung vor allem, was mit Medizin zu tun hat. Gesundheit ist das Wichtigste im Leben. Wer dafür sorgt, daß man gesund bleibt oder die Gesundheit wiederbekommt, hat ein Recht, besonders ehrend behandelt zu werden. Ob es nun ein Arzt ist oder ein Wunderheiler – nirgendwo gibt es so viele Außenseiter der Medizin wie in Rußland, von den Schamanen angefangen über Rasputin bis zu der wunderschönen, selbst von den Ärzten anerkannten, geheimnisvollen Dschuna in Moskau. Wer Leiden lindert, ist aller Achtung wert. Der Rotarmist stutzte, trat einen Schritt zurück, rempelte damit seine nachdrängenden Hintermänner an und senkte den Lauf der MP. Seine zwei Kameraden verstanden das falsch, dachten an einen Widerstand des Lastwagenfahrers und hoben ihre Waffen drohend hoch.
    »Die Hände hintern Kopf!« brüllte einer von ihnen. »Raus aus dem Wagen, du Stiefelpisser!«
    Walja Borisowna öffnete die andere Tür, sprang auf die Erde und kam um den Wagen herum. Ihr Anblick und die Arzttasche ließen auch die beiden anderen Posten sofort milder werden. Ja, verlegen wurden sie wie kleine Jungen, die man bei irgend etwas Verbotenem ertappt hatte.
    »Habe ich Stiefel an, in die ich hineinpisse?« fragte Walja laut. »Seht's euch genau an!«
    »Nur so eine Redensart ist's, Genossin«, sagte der erste Posten verlegen. »Unter Männern, wissen Sie. Gemeint waren natürlich nicht Sie. Man hat Sie nicht gesehen hinter dem Kerl.« Er räusperte sich, ein junges Bürschchen, dem das Käppi schief auf dem Kopf saß. Etwas zu groß war die erdbraune Feldbluse, die um seinen Oberkörper schlotterte. »Trotzdem, Genossin: Ich muß fragen, was Sie hier wollen.«
    Walja hob die Arzttasche vor seine Augen und schwenkte sie. »Genügt das nicht, he?« rief sie aufgebracht. »Gegen dumme Fragen gibt's leider keine Medizin.«
    »Sie sind bestellt, Genossin Ärztin?«
    »Wäre ich sonst hier?«
    »Wer hat Sie bestellt? Keine Order liegt vor, Sie ins Lager zu lassen.«
    »Der Genosse Major Nasarow, der in der Zentrale von Nowo Gorodjina gerade zu Abend ißt, hat mich beauftragt, nach den zehn Gefangenen zu sehen. In der Frühe sollen sie verhört werden. Es ist festzustellen, ob alle vernehmungsfähig sind. Genügt Ihnen das?«
    Der Posten zögerte. Man wußte nie, was Nasarow gerade im Sinn hatte. Holte man ihn jetzt ans Telefon, konnte es harte Folgen haben. Fragte man ihn nicht, konnte es noch