Siddharta
ich
dich verlassen.«
Lange noch wandelten die Freunde im Gehölz, lange lagen
sie und fanden nicht den Schlaf. Und immer von neuem drang
Govinda in seinen Freund, er möge ihm sagen, warum er nicht
seine Zuflucht zu Gotamas Lehre nehmen wolle, welchen
Fehler denn er in dieser Lehre finde. Siddhartha aber wies ihn
jedesmal zurück und sagte: »Gib dich zufrieden, Govinda! Sehr
gut ist des Erhabenen Lehre, wie sollte ich einen Fehler an ihr finden.«
Am frühesten Morgen ging ein Nachfolger Buddhas, einer
seiner ältesten Mönche, durch den Garten und rief alle jene zu
sich, welche als Neulinge ihre Zuflucht zur Lehre genommen
hatten, um ihnen das gelbe Gewand anzulegen und sie in den
ersten Lehren und Pflichten ihres Standes zu unterweisen. Da
riß Govinda sich los, umarmte noch einmal den Freund seiner
Jugend und schloß sich dem Zuge der Novizen an.
Siddhartha aber wandelte in Gedanken durch den Hain.
Da begegnete ihm Gotama, der Erhabene, und als er ihn
mit Ehrfurcht begrüßte und der Blick des Buddha so voll
Güte und Stille war, faßte der Jüngling Mut und bat den Ehr-
würdigen um Erlaubnis, zu ihm zu sprechen. Schweigend
nickte der Erhabene Gewährung.
Sprach Siddhartha: »Gestern, o Erhabener, war es mir ver-
gönnt, deine wundersame Lehre zu hören. Zusammen mit
meinem Freund kam ich aus der Ferne her, um die Lehre zu
hören. Und nun wird mein Freund bei den Deinen bleiben, zu
dir hat er seine Zuflucht genommen. Ich aber trete meine
Pilgerschaft aufs neue an.«
»Wie es dir beliebt«, sprach der Ehrwürdige höflich.
»Allzu kühn ist meine Rede«, fuhr Siddhartha fort, »aber
ich möchte den Erhabenen nicht verlassen, ohne ihm meine
Gedanken in Aufrichtigkeit mitgeteilt zu haben. Will mir der
Ehrwürdige noch einen Augenblick Gehör schenken?«
Schweigend nickte der Buddha Gewährung.
Sprach Siddhartha: »Eines, o Ehrwürdigster, habe ich an
deiner Lehre vor allem bewundert. Alles in deiner Lehre ist
vollkommen klar, ist bewiesen; als eine vollkommene, als eine
nie und nirgends unterbrochene Kette zeigst du die Welt, als eine ewige Kette, gefügt aus Ursachen und Wirkungen. Niemals ist
dies so klar gesehen, nie so unwiderleglich dargestellt worden; höher wahrlich muß jedem Brahmanen das Herz im Leibe
schlagen, wenn er, durch deine Lehre hindurch, die Welt
erblickt als vollkommenen Zusammenhang, lückenlos, klar wie
ein Kristall, nicht vom Zufall abhängig, nicht von Göttern
abhängig. Ob sie gut oder böse, ob das Leben in ihr Leid oder
Freude sei, möge dahingestellt bleiben, es mag vielleicht sein, daß dies nicht wesentlich ist — aber die Einheit der Welt, der
Zusammenhang alles Geschehens, das Umschlossensein alles
Großen und Kleinen vom selben Strome, vom selben Gesetz
der Ursachen, des Werdens und des Sterbens, dies leuchtet hell
aus deiner erhabenen Lehre, o Vollendeter. Nun aber ist, deiner selben Lehre nach, diese Einheit und Folgerichtigkeit aller
Dinge dennoch an einer Stelle unterbrochen, durch eine kleine
Lücke strömt in diese Welt der Einheit etwas Fremdes, etwas
Neues, etwas, das vorher nicht war, und das nicht gezeigt und
nicht bewiesen werden kann: das ist deine Lehre von der
Überwindung der Welt, von der Erlösung. Mit dieser kleinen
Lücke, mit dieser kleinen Durchbrechung aber ist das ganze
ewige und einheitliche Weltgesetz wieder zerbrochen und
aufgehoben. Mögest du mir verzeihen, wenn ich diesen
Einwand ausspreche.«
Still hatte Gotama ihm zugehört, unbewegt. Mit seiner
gütigen, mit seiner höflichen und klaren Stimme sprach er
nun, der Vollendete: »Du hast die Lehre gehört, o Brahma-
nensohn, und wohl dir, daß du über sie so tief nachgedacht
hast. Du hast eine Lücke in ihr gefunden, einen Fehler. Mö-
gest du weiter darüber nachdenken. Laß dich aber warnen,
du Wißbegieriger, vor dem Dickicht der Meinungen und vor
dem Streit um Worte. Es ist an Meinungen nichts gelegen, sie
mögen schön oder häßlich, klug oder töricht sein, jeder kann
ihnen anhängen oder sie verwerfen. Die Lehre aber, die du
von mir gehört hast, ist nicht meine Meinung, und ihr Ziel ist
nicht, die Welt für Wißbegierige zu erklären. Ihr Ziel ist ein
anderes; ihr Ziel ist Erlösung vom Leiden. Diese ist es, wel-
che Gotama lehrt, nichts anderes.«
»Mögest du mir, o Erhabener, nicht zürnen«, sagte der
Jüngling. »Nicht um Streit mit dir zu suchen, Streit um
Worte, habe ich so zu dir gesprochen. Du hast
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