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Siddharta

Siddharta

Titel: Siddharta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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nennt sie Täuschung, Zufall und wertlose Schale,
    sondern er liest sie, er studiert und liebt sie, Buchstabe um
    Buchstabe. Ich aber, der ich das Buch der Welt und das Buch
    meines eigenen Wesens lesen wollte, ich habe, einem im voraus
    vermuteten Sinn zuliebe, die Zeichen und Buchstaben
    verachtet, ich nannte die Welt der Erscheinungen Täuschung,
    nannte mein Auge und meine Zunge zufällige und wertlose
    Erscheinungen. Nein, dies ist vorüber, ich bin erwacht, ich bin in der Tat erwacht und heute erst geboren.«
    Indem Siddhartha diesen Gedanken dachte, blieb er abemals
    stehen, plötzlich, als läge eine Schlange vor ihm auf dem Weg.
    Denn plötzlich war auch dies ihm klargeworden: er, der in
    der Tat wie ein Erwachter oder Neugeborener war, er mußte
    sein Leben neu und völlig von vorn beginnen. Als er an diesem
    selben Morgen den Hain Jetavana, den Hain jenes Erhabenen,
    verlassen hatte, schon erwachend, schon auf dem Wege zu sich
    selbst, da war es seine Absicht gewesen und war ihm natürlich
    und selbstverständlich erschienen, daß er, nach den Jahren
    seines Asketentums, in seine Heimat und zu seinem Vater
    zurückkehre. Jetzt aber, erst in diesem Augenblick, da er
    stehenblieb, als läge eine Schlange auf seinem Wege, erwachte
    er auch zu dieser Einsicht: »Ich bin ja nicht mehr, der ich war, ich bin nicht mehr Asket, ich bin nicht mehr Priester, ich bin
    nicht mehr Brahmane. Was denn soll ich zu Hause und bei
    meinem Vater tun? Studieren? Opfern? Die Versenkung
    pflegen? Dies alles ist ja vorüber, dies alles liegt nicht mehr an meinem Wege.«
    Regungslos blieb Siddhartha stehen, und einen Augenblick
    und Atemzug lang fror sein Herz, er fühlte es in der Brust
    innen frieren wie ein kleines Tier, einen Vogel oder einen
    Hasen, als er sah, wie allein er sei. Jahrelang war er heimatlos gewesen und hatte es nicht gefühlt. Nun fühlte er es. Immer
    noch, auch in der fernsten Versenkung, war er seines Vaters
    Sohn gewesen, war Brahmane gewesen, hohen Standes, ein
    Geistiger. Jetzt war er nur noch Siddhartha, der Erwachte,
    sonst nichts mehr. Tief sog er den Atem ein, und einen
    Augenblick fror er und schauderte. Niemand war so
    allein wie er. Kein Adliger, der nicht zu den Adligen, kein Handwerker, der nicht zu den Handwerkern gehörte und Zuflucht bei ihnen fand, ihr Leben teilte, ihre Sprache sprach. Kein Brahmane, der nicht zu den Brahmanen zählte und mit ihnen lebte, kein Asket, der nicht im Stande der Samanas seine Zuflucht fand, und auch der verlorenste Einsiedler im Walde war nicht einer und allein, auch ihn umgab Zugehörigkeit, auch er gehörte einem Stande an, der ihm Heimat war. Govinda
    war Mönch geworden, und tausend Mönche waren seine Brüder,
    trugen sein Kleid, glaubten seinen Glauben, sprachen seine Sprache.
    Er aber, Siddhartha, wo war er zugehörig? Wessen Leben würde erteilen?
    Wessen Sprache würde er sprechen?
    Aus diesem Augenblick, wo die Welt rings von ihm wegschmolz
    wo er allein stand wie ein Stern am Himmel, aus diesem Augenblick einer Kälte und Verzagtheit tauchte Siddhartha empor, mehr Ich
    als zuvor, fester geballt. Er fühlte: dies war der letzte Schauder des Erwachens gewesen, der letzte Krampf der Geburt. Und alsbald
    schritt er wieder aus, begann rasch und ungeduldig zu gehen, nicht mehr nach Hause, nicht mehr zum Vater, nicht mehr zurück
    Zweiter Teil
    Kamala
    Siddhartha lernte Neues auf jedem Schritt seines Weges, denn
    die Welt war verwandelt, und sein Herz war bezaubert. Er sah
    die Sonne überm Waldgebirge aufgehen und überm fernen
    Palmenstrande untergehen. Er sah nachts am Himmel die
    Sterne geordnet, und den Sichelmond wie ein Boot im Blauen
    schwimmend. Er sah Bäume, Sterne, Tiere, Wolken,
    Regenbogen, Felsen, Kräuter, Blumen, Bach und Fluß,
    Taublitz im morgendlichen Gesträuch, ferne hohe Berge blau
    und bleich, Vögel sangen und Bienen, Wind wehte silbern im
    Reisfelde. Dies alles, tausendfalt und bunt, war immer
    dagewesen, immer hatten Sonne und Mond geschienen,
    immer Flüsse gerauscht und Bienen gesummt, aber es war in
    den früheren Zeiten für Siddhartha dies alles nichts gewesen als ein flüchtiger und trügerischer Schleier vor seinem Auge, mit
    Mißtrauen betrachtet, dazu bestimmt, vom Gedanken
    durchdrungen und vernichtet zu werden, da es nicht Wesen
    war, da das Wesen jenseits der Sichtbarkeit lag. Nun aber
    weilte sein befreites Auge diesseits, es sah und erkannte die
    Sichtbarkeit, suchte Heimat in dieser Welt, suchte nicht das
    Wesen,

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