Siddharta
nennt sie Täuschung, Zufall und wertlose Schale,
sondern er liest sie, er studiert und liebt sie, Buchstabe um
Buchstabe. Ich aber, der ich das Buch der Welt und das Buch
meines eigenen Wesens lesen wollte, ich habe, einem im voraus
vermuteten Sinn zuliebe, die Zeichen und Buchstaben
verachtet, ich nannte die Welt der Erscheinungen Täuschung,
nannte mein Auge und meine Zunge zufällige und wertlose
Erscheinungen. Nein, dies ist vorüber, ich bin erwacht, ich bin in der Tat erwacht und heute erst geboren.«
Indem Siddhartha diesen Gedanken dachte, blieb er abemals
stehen, plötzlich, als läge eine Schlange vor ihm auf dem Weg.
Denn plötzlich war auch dies ihm klargeworden: er, der in
der Tat wie ein Erwachter oder Neugeborener war, er mußte
sein Leben neu und völlig von vorn beginnen. Als er an diesem
selben Morgen den Hain Jetavana, den Hain jenes Erhabenen,
verlassen hatte, schon erwachend, schon auf dem Wege zu sich
selbst, da war es seine Absicht gewesen und war ihm natürlich
und selbstverständlich erschienen, daß er, nach den Jahren
seines Asketentums, in seine Heimat und zu seinem Vater
zurückkehre. Jetzt aber, erst in diesem Augenblick, da er
stehenblieb, als läge eine Schlange auf seinem Wege, erwachte
er auch zu dieser Einsicht: »Ich bin ja nicht mehr, der ich war, ich bin nicht mehr Asket, ich bin nicht mehr Priester, ich bin
nicht mehr Brahmane. Was denn soll ich zu Hause und bei
meinem Vater tun? Studieren? Opfern? Die Versenkung
pflegen? Dies alles ist ja vorüber, dies alles liegt nicht mehr an meinem Wege.«
Regungslos blieb Siddhartha stehen, und einen Augenblick
und Atemzug lang fror sein Herz, er fühlte es in der Brust
innen frieren wie ein kleines Tier, einen Vogel oder einen
Hasen, als er sah, wie allein er sei. Jahrelang war er heimatlos gewesen und hatte es nicht gefühlt. Nun fühlte er es. Immer
noch, auch in der fernsten Versenkung, war er seines Vaters
Sohn gewesen, war Brahmane gewesen, hohen Standes, ein
Geistiger. Jetzt war er nur noch Siddhartha, der Erwachte,
sonst nichts mehr. Tief sog er den Atem ein, und einen
Augenblick fror er und schauderte. Niemand war so
allein wie er. Kein Adliger, der nicht zu den Adligen, kein Handwerker, der nicht zu den Handwerkern gehörte und Zuflucht bei ihnen fand, ihr Leben teilte, ihre Sprache sprach. Kein Brahmane, der nicht zu den Brahmanen zählte und mit ihnen lebte, kein Asket, der nicht im Stande der Samanas seine Zuflucht fand, und auch der verlorenste Einsiedler im Walde war nicht einer und allein, auch ihn umgab Zugehörigkeit, auch er gehörte einem Stande an, der ihm Heimat war. Govinda
war Mönch geworden, und tausend Mönche waren seine Brüder,
trugen sein Kleid, glaubten seinen Glauben, sprachen seine Sprache.
Er aber, Siddhartha, wo war er zugehörig? Wessen Leben würde erteilen?
Wessen Sprache würde er sprechen?
Aus diesem Augenblick, wo die Welt rings von ihm wegschmolz
wo er allein stand wie ein Stern am Himmel, aus diesem Augenblick einer Kälte und Verzagtheit tauchte Siddhartha empor, mehr Ich
als zuvor, fester geballt. Er fühlte: dies war der letzte Schauder des Erwachens gewesen, der letzte Krampf der Geburt. Und alsbald
schritt er wieder aus, begann rasch und ungeduldig zu gehen, nicht mehr nach Hause, nicht mehr zum Vater, nicht mehr zurück
Zweiter Teil
Kamala
Siddhartha lernte Neues auf jedem Schritt seines Weges, denn
die Welt war verwandelt, und sein Herz war bezaubert. Er sah
die Sonne überm Waldgebirge aufgehen und überm fernen
Palmenstrande untergehen. Er sah nachts am Himmel die
Sterne geordnet, und den Sichelmond wie ein Boot im Blauen
schwimmend. Er sah Bäume, Sterne, Tiere, Wolken,
Regenbogen, Felsen, Kräuter, Blumen, Bach und Fluß,
Taublitz im morgendlichen Gesträuch, ferne hohe Berge blau
und bleich, Vögel sangen und Bienen, Wind wehte silbern im
Reisfelde. Dies alles, tausendfalt und bunt, war immer
dagewesen, immer hatten Sonne und Mond geschienen,
immer Flüsse gerauscht und Bienen gesummt, aber es war in
den früheren Zeiten für Siddhartha dies alles nichts gewesen als ein flüchtiger und trügerischer Schleier vor seinem Auge, mit
Mißtrauen betrachtet, dazu bestimmt, vom Gedanken
durchdrungen und vernichtet zu werden, da es nicht Wesen
war, da das Wesen jenseits der Sichtbarkeit lag. Nun aber
weilte sein befreites Auge diesseits, es sah und erkannte die
Sichtbarkeit, suchte Heimat in dieser Welt, suchte nicht das
Wesen,
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