Siddharta
wahrlich
recht, wenig ist an Meinungen gelegen. Aber laß mich dies
eine noch sagen: Nicht einen Augenblick habe ich an dir ge-
zweifelt. Ich habe nicht einen Augenblick gezweifelt, daß du
Buddha bist, daß du das Ziel erreicht hast, das höchste, nach
welchem so viel tausend Brahmanen und Brahmanensöhne
unterwegs sind. Du hast die Erlösung vom Tode gefunden.
Sie ist dir geworden aus deinem eigenen Suchen, auf deinem
eigenen Wege, durch Gedanken, durch Versenkung, durch
Erkenntnis, durch Erleuchtung. Nicht ist sie dir geworden
durch Lehre! Und - so ist mein Gedanke, o Erhabener - kei-
nem wird Erlösung zuteil durch Lehre! Keinem, o Ehrwürdi-
ger, wirst du in Worten und durch Lehre mitteilen und sagen
können, was dir geschehen ist in der Stunde deiner Erleuch-
tung! Vieles enthält die Lehre des erleuchteten Buddha, viele
lehrt sie, rechtschaffen zu leben, Böses zu meiden. Eines aber
enthält die so klare, die so ehrwürdige Lehre nicht: sie enthält nicht das Geheimnis dessen, was der Erhabene selbst erlebt
hat, er allein unter den Hunderttausenden. Dies ist es, was ich gedacht und erkannt habe, als ich die Lehre hörte. Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze - nicht um eine
andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn ich weiß, es gibt
keine, sondern um alle Lehren und alle Lehrer zu verlassen
und allein mein Ziel zu erreichen oder zu sterben. Oftmals
aber werde ich dieses Tages gedenken, o Erhabener, und
dieser Stunde, da meine Augen einen Heiligen sahen.«
Die Augen des Buddha blickten still zu Boden, still in
vollkommenem Gleichmut strahlte sein unerforschliches
Gesicht.
»Mögen deine Gedanken«, sprach der Ehrwürdige lang-
sam, »keine Irrtümer sein! Mögest du ans Ziel kommen!
Aber sage mir: Hast du die Schar meiner Samanas gesehen,
meiner vielen Brüder, welche ihre Zuflucht zur Lehre ge-
nommen haben? Und glaubst du, fremder Samana, glaubst
du, daß es diesen allen besser wäre, die Lehre zu verlassen
und in das Leben der Welt und der Lüste zurückzukehren?«
»Fern ist ein solcher Gedanke von mir«, rief Siddhartha.
»Mögen sie alle bei der Lehre bleiben, mögen sie ihr Ziel
erreichen! Nicht steht mir zu, über eines ändern Leben zu
urteilen! Einzig für mich, für mich allein muß ich urteilen,
muß ich wählen, muß ich ablehnen. Erlösung vom Ich suchen
wir Samanas, o Erhabener. Wäre ich nun einer deiner Jünger,
o Ehrwürdiger, so furchte ich, es möchte mir geschehen, daß
nur scheinbar, nur trügerisch mein Ich zur Ruhe käme und
erlöst würde, daß es aber in Wahrheit weiterlebte und groß
würde, denn ich hätte dann die Lehre, hätte meine Nachfolge,
hätte meine Liebe zu dir, hätte die Gemeinschaft der Mönche
zu meinem Ich gemacht!«
Mit halbem Lächeln, mit einer unerschütterten Helle und
Freundlichkeit sah Gotama dem Fremdling ins Auge und
verabschiedete ihn mit einer kaum sichtbaren Gebärde.
»Klug bist du, o Samana«, sprach der Ehrwürdige. »Klug
weißt du zu reden, mein Freund. Hüte dich vor allzu großer
Klugheit!«
Hinweg wandelte der Buddha, und sein Blick und halbes
Lächeln blieb für immer in Siddharthas Gedächtnis eingegraben.
So habe ich noch keinen Menschen blicken und lächeln,
sitzen und schreiten sehen, dachte er, so wahrlich wünsche
auch ich blicken und lächeln, sitzen und schreiten zu können, so frei, so ehrwürdig, so verborgen, so offen, so kindlich und
geheimnisvoll. So wahrlich blickt und schreitet nur der
Mensch, der ins Innerste seines Selbst gedrungen ist. Wohl,
auch ich werde ins Innerste meines Selbst zu dringen suchen.
Einen Menschen sah ich, dachte Siddhartha, einen einzi-
gen, vor dem ich meine Augen niederschlagen mußte. Vor
keinem ändern mehr will ich meine Augen niederschlagen,
vor keinem mehr. Keine Lehre mehr wird mich verlocken,
da dieses Menschen Lehre mich nicht verlockt hat.
Beraubt hat mich der Buddha, dachte Siddhartha, beraubt
hat er mich, und mehr noch hat er mich beschenkt. Beraubt
hat er mich meines Freundes, dessen, der an mich glaubte
und der nun an ihn glaubt, der mein Schatten war und nun
Gotamas Schatten ist. Geschenkt aber hat er mir Siddhartha,
mich selbst.
Erwachen
Als Siddhartha den Hain verließ, in welchem der Buddha, der
Vollendete, zurückblieb, in welchem Govinda zurück-blieb,
da fühlte er, daß in diesem Hain auch sein bisheriges Leben
hinter ihm zurückblieb und sich von ihm trennte. Dieser
Empfindung, die ihn ganz
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