Siddharta
Ehrwürdigen. Zu
bewundern war sein Vater, still und edel war sein Gehaben,
rein sein Leben, weise sein Wort, feine und adlige Gedanken
wohnten in seiner Stirn - aber auch er, der so viel Wissende,
lebte er denn in Seligkeit, hatte er Frieden, war er nicht auch nur ein Suchender, ein Dürstender? Mußte er nicht immer und
immer wieder an heiligen Quellen, ein Durstender, trinken, am
Opfer, an den Büchern, an der Wechselrede der Brahmanen?
Warum mußte er, der Untadelige, jeden Tag Sünde
abwaschen, jeden Tag sich um Reinigun bemühen, jeden
Tag von neuem? War denn nicht Atman in ihm, floß denn
nicht in seinem eigenen Herzen der Urquell? Ihn mußte man
finden, den Urquell im eigenen Ich, ihn mußte man zu eigen
haben! Alles andre war Suchen, war Umweg, war Verirrung.
So waren Siddharthas Gedanken, dies war sein Durst, dies
sein Leiden.
Oft sprach er aus einem Chandogya-Upanishad sich die
Worte vor: »Fürwahr, der Name des Brahman ist Satyam -
wahrlich, wer solches weiß, der geht täglich ein in die himm-
lischen Welt. Oft schien sie nahe, die himmlische Welt, aber
niemals hatte er sie ganz erreicht, nie den letzten Durst gestillt.
Und von allen Weisen und Weisesten, die er kannte und
deren Belehrung er genoß, von ihnen allen war keiner,
der sie ganz erreicht hatte, die himmlische Welt, der ihn ganz
gelöscht hatte, den ewigen Durst.
„Go vi n d a“, sprach Siddhartha zu seinem Freunde,
»Govinda, Lieber, komm mit mir unter den Banyanenbaum,
wir wollen der Versenkung pflegen.«
Sie gingen zum Banyanenbaum, sie setzten sich nieder,
hierSiddhartha, zwanzig Schritte weiter Govinda. Indem er sich niedersetzte, bereit, das Om zu sprechen, wiederholte
Siddhartha murmelnd den Vers:
»Om ist Bogen, der Pfeil ist Seele,
Das Brahman ist des Pfeiles Ziel,
Das soll man unentwegt treffen.«
Als die gewohnte Zeit der Versenkungsübung hingegangen
war erhob sich Govinda. Der Abend war gekommen, Zeit
war es, die Waschung der Abendstunde vorzunehmen .Er rief
Siddharthas Namen. Siddhartha gab nicht Antwort.
Siddhartha saß versunken, seine Augen standen starr auf ein sehr fernes
Ziel gerichtet, seine Zungenspitze stand ein wenig
z w i s c h e n den Zähnen hervor, er schien nicht zu atmen. So in Versenkung gehüllt, Om denkend, seine Seele als
Pfeil nach dem Brahman ausgesandt.
Einst waren Samanas durch
Siddharthas Stadt gezogen, pilgernde
Asketen, drei dürre, erloschene
Männer, nicht alt, noch jung, mit
staubigen und blutigen Schultern,
nahezu nackt von der Sonne versengt,
von Einsamkeit umgeben,
fremd und feind der Welt, Fremdlinge und hagere Schakale
im Reich der Menschen. Hinter ihnen her wehte heiß ein
Duft von stiller Leidenschaft, von zerstörendem Dienst, von
mitleidloser Entselbstung.
Am Abend, nach der Stunde der Betrachtung, sprach Sid-
dhartha zu Govinda: »Morgen in der Frühe, mein Freund,
wird Siddhartha zu den Samanas gehen. Er wird ein Samana
werden.«
Govinda erbleichte, da er die Worte hörte und im
unbewegten Gesicht seines Freundes den Entschluß las,
unablenkbar wie der vom Bogen losgeschnellte Pfeil.
Alsbald und beim ersten Blick erkannte Govinda: nun
beginnt es, nun geht Siddhartha seinen Weg, nun beginnt
sein Schicksal zu sprossen, und mit seinem das meine. Und
er wurde bleich wie eine trockene Bananenschale.
»O Siddhartha«, rief er, »wird das dein Vater dir
erlauben?«
Siddhartha blickte herüber wie ein Erwachender. Pfeil
schnell las er in Govindas Seele, las die Angst, las die
Ergebung.
»O Govinda«, sprach er leise, »wir wollen nicht Worte
verschwenden. Morgen mit Tagesanbruch werde ich das Leben
der Samanas beginnen. Rede nicht mehr davon.«
Siddhartha trat in die Kammer, wo sein Vater auf einer
Matte aus Bast saß, und trat hinter seinen Vater und blieb da
stehen, bis sein Vater fühlte, daß einer hinter ihm stehe.
Sprach der Brahmane: »Bist du es, Siddhartha? So sage, was zu
sagen du gekommen bist.«
Sprach Siddhartha: »Mit deiner Erlaubnis, mein Vater. Ich
bin gekommen, dir zu sagen, daß mich verlangt, morgen
dein Haus zu verlassen und zu den Asketen zu gehen. Ein
Samana zu werden, ist mein Verlangen. Möge mein Vater dem
nicht entgegen sein.«
Der Brahmane schwieg, und schwieg so lange, daß im
kleinen Fenster die Sterne wanderten und ihre Figur
veränderten, ehe das Schweigen in der Kammer ein Ende
fand. Stumm und regungslos stand mit gekreuzten Armen
der Sohn, stumm und regungslos saß auf der Matte
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