Siddharta
Fürsten
zur Jagd gehen, Leidtragende ihre Toten beweinen, Huren
sich anbieten, Ärzte sich um Kranke bemühen, Priester den
Tag für die Aussaat bestimmen, Liebende lieben, Mütter ihre
Kinder stillen- und alles war nicht den Blick seines Auges wert, alles log, alles stank, alles stank nach Lüge, alles täuschte Sinn und Glück und Schönheit vor, und alles war uneingestandene
Verwesung. Bitter schmeckte die Welt. Qual war das Leben.
Ein Ziel stand vor Siddhartha, ein einziges: leer werden,
leer von Durst, leer von Wunsch, leer von Traum, leer von
Freude und Leid. Von sich selbst wegsterben, nicht mehr Ich
sein, entleerten Herzens Ruhe zu finden, im entselbsteten
Denken dem Wunder offen zu stehen, das war sein Ziel.
Wenn alles Ich überwunden und gestorben war, wenn jede
Sucht und jeder Trieb im Herzen schwieg, dann mußte das
Letzte erwachen, das Innerste im Wesen, das nicht mehr Ich
ist, das große Geheimnis.
Schweigend stand Siddhartha im senkrechten
Sonnenbrand, glühend vor Schmerz, glühend vor Durst, und
stand, bis er nicht Schmerz noch Durst mehr fühlte.
Schweigend stand er in der Regenzeit, aus seinem Haare troff
das Wasser über frierende Schultern, über frierende Hüften
und Beine, und der Büßer stand, bis Schultern und Beine nicht
mehr froren, bis sie schwiegen, bis sie still waren. Schweigend kauerte er im Dorngerank, aus der brennenden Haut tropfte das
Blut, aus Schwären der Eiter, und Siddhartha verweilte starr,
verweilte regungslos, bis kein Blut mehr floß, bis nichts mehr
stach, bis nichts mehr brannte.
Siddhartha saß aufrecht und lernte den Atem sparen, lernte
mit wenig Atem auskommen, lernte den Atem abzustellen.
Er lernte, mit dem Atem beginnend, seinen Herzschlag beru-
higen, lernte die Schläge seines Herzens vermindern, bis es
wenige und fast keine mehr waren.
Vom Ältesten der Samanas belehrt, übte Siddhartha Ent-
selbstung, übte Versenkung, nach neuen Samanaregeln. Ein
Reiher flog überm Bambuswald - und Siddhartha nahm den
Reiher in seine Seele auf, flog über Wald und Gebirg, war
Reiher, fraß Fische, hungerte Reiherhunger, sprach Reiher-
gekrächz, starb Reihertod. Ein toter Schakal lag am Sandufer,
und Siddharthas Seele schlüpfte in den Leichnam hinein, war
toter Schakal, lag am Strande, blähte sich, stank, verweste,
ward von Hyänen zerstückt, ward von Geiern enthäutet, ward
Gerippe, ward Staub, wehte ins Gefild. Und Siddharthas
Seele kehrte zurück, war gestorben, war verwest, war
zerstäubt, hatte den trüben Rausch des Kreislaufs geschmeckt,
harrte in neuem Durst wie ein Jäger auf die Lücke, wo dem
Kreislauf zu entrinnen wäre, wo das Ende der Ursachen, wo
leidlose Ewigkeit begänne. Er tötete seine Sinne, er tötete seine Erinnerung, er schlüpfte aus seinem Ich in tausend fremde
Gestaltungen, war Tier, war Aas, war
Stein, war Holz, war Wasser, und fand sich jedesmal
erwachend wieder, Sonne schien oder Mond, war wieder
Ich, schwang im Kreislauf, fühlte Durst, überwand den
Durst, fühlte neuen Durst.
Vieles lernte Siddhartha bei den Samanas, viele Wege vorn
Ich hinweg lernte er gehen. Er ging den Weg der Entselb-
stung durch den Schmerz, durch das freiwillige Erleiden und
Überwinden des Schmerzes, des Hungers, des Durstes, der
Müdigkeit. Er ging den Weg der Entselbstung durch
Meditation, durch das Leerdenkcn des Sinnes von allen
Vorstellungen. Diese und andere Wege lernte er gehen,
tausendmal verließ er sein Ich, stundenlang und tagelang
verharrte er im Nicht-Ich. Aber ob auch die Wege vom Ich
hinwegführten, ihr Ende führte doch immer zum Ich zurück.
Ob Siddhartha tausendmal dem Ich entfloh, im Nichts
verweilte, im Tier, im Stein verweilte, unvermeidlich war die
Rückkehr, unentrinnbar die Stunde, da er sich wiederfand, im
Sonnenschein oder im Mondschein, im Schatten oder im
Regen, und wieder Ich und Siddhartha war, und wieder die
Qual des auferlegten Kreislaufes empfand.
Neben ihm lebte Govinda, sein Schatten, ging dieselben
Wege, unterzog sich denselben Bemühungen. Selten
sprachen sie anderes miteinander, als der Dienst und die
Übungen erforderten. Zuweilen gingen sie zu zweien durch
die Dörfer, um Nahrung für sich und ihre Lehrer zu betteln.
»Wie denkst du, Govinda«, sprach einst auf diesem
Bettelgang Siddhartha, »wie denkst du, sind wir weiter
gekommen? Haben wir Ziele erreicht?«
Antwortete Govinda: »Wir haben gelernt, und wir lernen
weiter. Du wirst ein großer Samana
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