Siddharta
Freund, ist Nir-
wana. Es ist ein Gedanke.«
Siddhartha fuhr fort: »Ein Gedanke, es mag so sein. Ich
muß dir gestehen, Lieber: ich unterscheide zwischen Gedanken
und Worten nicht sehr. Offen gesagt, halte ich auch von
Gedanken nicht viel. Ich halte von Dingen mehr. Hier auf
diesem Fährboot zum Beispiel war ein Mann mein Vorgänger
und Lehrer, ein heiliger Mann, der hat manche Jahre lang
einfach an den Fluß geglaubt, sonst an nichts. Er hat gemerkt,
daß des Flusses Stimme zu ihm sprach, von ihr lernte er, sie
erzog und lehrte ihn, der Fluß schien ihm ein Gott, viele Jahre lang wußte er nicht, daß jeder Wind, jede Wolke, jeder Vogel,
jeder Käfer genau so göttlich ist und ebensoviel weiß und
lehren kann wie der verehrte Fluß. Als dieser Heilige aber in
die Wälder ging, da wußte er alles, wußte mehr als du und ich,
ohne Lehrer, ohne Bücher, nur weil er an den Fluß geglaubt
hatte.«
Govinda sagte: »Aber ist das, was du >Dinge< nennst, denn etwas Wirkliches, etwas Wesenhaftes? Ist das nicht nur Trug
der Maja, nur Bild und Schein? Dein Stein, dein Baum, dein
Fluß - sind sie denn Wirklichkeiten?«
»Auch dies«, sprach Siddhartha, »bekümmert mich nicht
sehr, Mögen die Dinge Schein sein oder nicht, auch ich bin
alsdann ja Schein, und so sind sie stets meinesgleichen. Das
ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind
meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben. Und dies ist nun
eine Lehre, über welche du lachen wirst: die Liebe, o Go-
vinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt
zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer
Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt
lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht
zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und
Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können.«
»Dies verstehe ich«, sprach Govinda. »Aber eben dies hat
er, der Erhabene, als Trug erkannt. Er gebietet Wohlwollen,
Schonung, Mitleid, Duldung, nicht aber Liebe; er verbot uns,
unser Herz in Liebe an Irdisches zu fesseln.«
»Ich weiß es«, sagte Siddhartha; sein Lächeln strahlte golden.
»Ich weiß es, Govinda. Und siehe, da sind wir mitten im
Dickicht der Meinungen drin, im Streit um Worte. Denn ich
kann nicht leugnen, meine Worte von der Liebe stehen im
Widerspruch, im scheinbaren Widerspruch zu Gotamas
Worten. Eben darum mißtraue ich den Worten so sehr, denn
ich weiß, dieser Widerspruch ist Täuschung. Ich weiß, daß ich
mit Gotama einig bin. Wie sollte denn auch Er die Liebe nicht
kennen. Er, der alles Menschensein in seiner Vergänglichkeit,
in seiner Nichtigkeit erkannt hat, und dennoch die Menschen
so sehr liebte, daß er ein langes, mühevolles Leben einzig
darauf verwendet hat, ihnen zu helfen, sie zu lehren! Auch bei
ihm, auch bei deinem großen Lehrer, ist mir das Ding lieber
als die Worte, sein Tun und Leben wichtiger als sein Reden,
die Gebärde seiner Hand wichtiger als seine Meinungen. Nicht
im Reden, nicht im Denken sehe ich seine Größe, nur im Tun,
im Leben.«
Lange schwiegen die beiden alten Männer. Dann sprach
Govinda, indem er sich zum Abschied verneigte: »Ich danke
dir, Siddhartha, daß du mir etwas von deinen Gedanken gesagt
hast. Es sind zum Teil seltsame Gedanken, nicht alle sind mir
sofort verständlich geworden. Dies möge sein, wie es wolle,
ich danke dir, und ich wünsche dir ruhige Tage.«
(Heimlich bei sich aber dachte er: Dieser Siddhartha ist ein
wunderlicher Mensch, wunderliche Gedanken spricht er aus,
närrisch klingt seine Lehre. Anders klingt des Erhabenen
reine Lehre, klarer, reiner, verständlicher, nichts Seltsames,
Närrisches oder Lächerliches ist in ihr enthalten. Aber anders
als seine Gedanken scheinen mir Siddharthas Hände und
Füße, seine Augen, seine Stirn, sein Atmen, sein Lächeln,
sein Gruß, sein Gang. Nie mehr, seit unser erhabener Go-
tama in Nirwana einging, nie mehr habe ich einen Menschen
angetroffen, von dem ich fühlte: dies ist ein Heiliger! Einzig
ihn, diesen Siddhartha, habe ich so gefunden. Mag seine
Lehre seltsam sein, mögen seine Worte närrisch klingen, sein
Blick und seine Hand, seine Haut und sein Haar, alles an ihm
strahlt eine Reinheit, strahlt eine Ruhe, strahlt eine Heiterkeit und Milde und Heiligkeit aus, welche ich an keinem anderen
Menschen seit dem letzten Tode unseres erhabenen Lehrers
gesehen habe.)
Indem Govinda also dachte, und ein Widerstreit in
Weitere Kostenlose Bücher