Siddharta
Hütte.«
Govinda blieb die Nacht in der Hütte und schlief auf dem
Lager, das einst Vasudevas Lager gewesen war. Viele Fragen
richtete er an den Freund seiner Jugend, vieles mußte ihm
Siddhartha aus seinem Leben erzählen.
Als es am ändern Morgen Zeit war, die Tageswanderung
anzutreten, da sagte Govinda, nicht ohne Zögern, die Worte:
»Ehe ich meinen Weg fortsetze, Siddhartha, erlaube mir noch
eine Frage. Hast du eine Lehre? Hast du einen Glauben oder
ein Wissen, dem du folgst, das dir leben und rechttun hilft?«
Sprach Siddhartha: »Du weißt, Lieber, daß ich schon als
junger Mann, damals, als wir bei den Büßern im Walde lebten,
dazu kam, den Lehren und Lehrern zu mißtrauen und ihnen
den Rücken zu wenden. Ich bin dabei geblieben. Dennoch
habe ich seither viele Lehrer gehabt. Eine schöne Kurtisane ist lange Zeit meine Lehrerin gewesen, und ein reicher Kaufmann
war mein Lehrer, und einige Würfelspieler. Einmal ist auch
ein wandernder Jünger Buddhas mein Lehrer gewesen; er saß
bei mir, als ich im Walde eingeschlafen war, auf der Pilger-
schaft. Auch von ihm habe ich gelernt, auch ihm bin ich dankbar, sehr dankbar. Am meisten aber habe ich hier von diesem
Flusse gelernt, und von meinem Vorgänger, dem Fährmann
Vasudeva. Er war ein sehr einfacher Mensch, Vasudeva, er
war kein Denker, aber er wußte das Notwendige, so gut wie
Gotama, er war ein Vollkommener, ein Heiliger.«
Govinda sagte: »Noch immer, o Siddhartha, liebst du ein
wenig den Spott, wie mir scheint. Ich glaube dir und weiß es,
daß du nicht einem Lehrer gefolgt bist. Aber hast nicht du
selbst, wenn auch nicht eine Lehre, so doch gewisse Gedan-
ken, gewisse Erkenntnisse gefunden, welche dein eigen sind
und die dir leben helfen? Wenn du mir von diesen etwas sagen
möchtest, würdest du mir das Herz erfreuen.«
Sprach Siddhartha: »Ich habe Gedanken gehabt, ja, und
Erkenntnisse, je undje. Ich habe manchmal, für eine Stunde
oder für einen Tag, Wissen in mir gefühlt, so wie man Leben in
seinem Herzen fühlt. Manche Gedanken waren es, aber
schwer wäre es für mich, sie dir mitzuteilen. Sieh, mein Go-
vinda, dies ist einer meiner Gedanken, die ich gefunden habe:
Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser
mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit.«
»Scherzest du?« fragte Govinda.
»Ich scherze nicht. Ich sage, was ich gefunden habe. Wissen
kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie
finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden,
man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann
man sie nicht. Dies war es, was ich schon als Jüngling
manchmal ahnte, was mich von den Lehrern fortgetrieben
hat. Ich habe einen Gedanken gefunden, Govinda, den du
wieder für Scherz oder für Narrheit halten wirst, der aber
mein bester Gedanke ist. Er heißt: von jeder Wahrheit ist das
Gegenteil ebenso wahr! Nämlich so: eine Wahrheit läßt sich
immer nur aussprechen und in Worte hüllen, wenn sie einseitig
ist. Einseitig ist alles, was mit Gedanken gedacht und mit
Worten gesagt werden kann, alles einseitig, alles halb, alles
entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit. Wenn der
erhabene Gotama lehrend von der Welt sprach, so mußte er
sie teilen in Sansara und Nirwana, in Täuschung und Wahrheit,
in Leid und Erlösung. Man kann nicht anders, es gibt keinen
ändern Weg für den, der lehren will. Die Welt selbst aber, das
Seiende um uns her und in uns innen, ist nie einseitig. Nie ist ein Mensch, oder eine Tat, ganz Sansara oder ganz Nirwana, nie ist
ein Mensch ganz heilig oder ganz sündig. Es scheint ja so, weil wir der Täuschung unterworfen sind, daß Zeit etwas
Wirkliches sei. Zeit ist nicht wirklich, Govinda, ich habe dies oft und oft erfahren. Und wenn Zeit nicht wirklich ist, so ist die Spanne, die zwischen Welt und Ewigkeit, zwischen Leid und
Seligkeit, zwischen Böse und Gut zu liegen scheint, auch eine
Täuschung.«
»Wie das?« fragte Govinda ängstlich.
»Höre gut, Lieber, höre gut! Der Sünder, der ich bin und
der du bist, der ist Sünder, aber er wird einst wieder Brahma
sein, er wird einst Nirwana erreichen, wird Buddha sein —
und nun siehe: dies >Einst< ist Täuschung, ist nur Gleichnis!
Der Sünder ist nicht auf dem Weg zur Buddhaschaft unter-
wegs, er ist nicht in einer Entwicklung begriffen, obwohl unser Denken sich die Dinge nicht anders vorzustellen weiß. Nein,
in dem Sünder ist, ist jetzt und heute schon der
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