Sie
jedoch auch eine Königin. ›Sie‹ sei ihre Königin, die sich aber nur sehr selten zeige, vielleicht alle zwei oder drei Jahre, wenn sie über irgendwelche Missetäter zu Gericht sitze. Sie sei in einen großen Mantel gehüllt, so daß niemand ihr Gesicht sehen könne. Ihre Bediensteten seien taub und stumm und könnten deshalb nichts verraten, doch sei sie angeblich schön wie kein anderes Weib auf Erden. Es heiße auch, daß sie unsterblich sei und Macht über alle Dinge habe, doch sie, Ustane, wisse nichts Näheres darüber. Sie glaube, daß die Königin sich von Zeit zu Zeit einen Gatten wähle, den sie, sobald sie ein weibliches Kind zur Welt gebracht habe, töten lasse. Wenn dieses Kind erwachsen sei, so trete es nach dem Tod der Mutter an deren Stelle. Doch über all dies wisse man nichts Genaues. Nur eines sei sicher: ›Sie‹ herrsche über das ganze Land, und jedem, der sich gegen sie auflehne, sei der Tod sicher. Sie halte sich eine Leibgarde, doch gebe es kein stehendes Heer.
Ich fragte, wie groß das Land sei und wie viele Menschen darin lebten. Sie erwiderte, es gebe zehn ›Haushalte‹, einschließlich des großen, dem die Königin angehöre, und alle ›Haushalte‹ lebten in Höhlen, die sich gleich dieser auf hochgelegenen Landstrichen befänden, welche von riesigen, nur auf geheimen Pfaden zu durchquerenden Sümpfen umgeben seien. Häufig bekriegten die ›Haushalte‹ einander, bis ›Sie‹ befehle, Frieden zu schließen, was dann jeweils unverzüglich geschehe. Diese Kriege sowie das Fieber, das man sich beim Durchschreiten der Sümpfe leicht zuziehe, verhinderten, daß die Bevölkerung allzu stark zunahm. Sie stünden mit keinem anderen Volk in Verbindung, und es lebe auch keines in der Nähe oder könne das ungeheure Sumpfgebiet durchqueren. Einmal habe eine Armee versucht, sie aus Richtung des großen Flusses (vermutlich des Sambesi) anzugreifen, doch sie habe sich in den Sümpfen verirrt, und da sie bei Nacht die Irrlichter fälschlich für feindliche Lagerfeuer gehalten hätte und darauf zumarschiert sei, wäre die Hälfte der gegnerischen Krieger ertrunken. Der Rest sei bald am Fieber gestorben oder verhungert, ohne daß man einen Schlag gegen sie hätte führen müssen. Die Sümpfe seien, wenn man nicht die geheimen Pfade kenne, völlig unpassierbar, und auch wir, erklärte sie, wären niemals ohne fremde Hilfe hierhergelangt.
Dies und manches andere erfuhren wir während der viertägigen Pause, die unseren weiteren Abenteuern vorausging, von Ustane, und man kann sich sicher vorstellen, daß es uns genügend Anlaß zum Nachdenken gab. Das Ganze war äußerst merkwürdig, ja fast unglaublich, und das seltsamste daran schien, daß es mehr oder weniger mit der alten Inschrift auf der Scherbe übereinstimmte. Da gab es also eine geheimnisvolle Königin, umwoben von Legenden, die ihr allerlei schreckliche und wunderbare Eigenschaften zuschrieben; eine Königin mit dem unpersönlichen, mir jedoch reichlich unheimlichen Titel ›Sie‹. Mir war das alles unbegreiflich, und Leo ebenfalls, obgleich dieser natürlich immer wieder triumphierend darauf hinwies, daß es seine Meinung bestätige. Was Job betrifft, so hatte er es längst aufgegeben, nach einer vernunftgemäßen Erklärung für diese phantastischen Geschehnisse zu suchen; er nahm alles gelassen hin, wie es kam. Mahomed, der Araber, den übrigens die Amahagger höflich, doch mit kühler Verachtung behandelten, schien sich sehr zu ängstigen, doch bekam ich nicht aus ihm heraus, wovor. Er saß den ganzen Tag zusammengekauert in einer Ecke der Höhle und beschwor Allah und die Propheten, ihn zu beschützen. Als ich in ihn drang, sagte er mir schließlich, er fürchte sich, weil diese Leute gar keine Männer und Frauen, sondern Teufel seien und weil wir uns in einem verwünschten Land befänden; und, offen gesagt, ein- oder zweimal in den folgenden Tagen war ich nahe daran, ihm beizupflichten. So verging die Zeit, und endlich kam der Abend des vierten Tages seit Billalis Abreise.
Wir drei und Ustane saßen vor dem Schlafengehen um ein Feuer in der Höhle, als sie, die schweigend vor sich hingestarrt hatte, plötzlich aufstand, ihre Hand auf Leos goldene Locken legte und ihn ansprach. Noch heute sehe ich, wenn ich die Augen schließe, ihre stolze, schöne Gestalt vor mir, wie sie, abwechselnd in dunklen Schatten und den flackernd roten Widerschein des Feuers gehüllt, dastand und ihren düsteren Gedanken und Vorahnungen in einem Lied
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