Sie fielen vom Himmel
Sie danach?« Seine Stimme war belegt und rauh. »Wird es besser, wenn wir nach diesem dummen Warum fragen? Wenn Sie keine Antwort auf Ihre Frage bekommen, und Sie gehen zu Ihrem Vorgesetzten und sagen ihm: ›Ich weiß nicht, warum ich andere totschieße. Ich gehe nach Hause …‹ dann wird man Sie einsperren! Wenn ich das sagen würde, würde man mich erschießen – wir Deutsche sind darin gründlicher. Aber auch das Kommando, das mich erschießt, würde nicht wissen, warum es schießt. Es hat einen Befehl – das ist alles! Und den führt es aus. Bedenkenlos, sachlich, gründlich … so, wie ein Befehl behandelt wird. Und selbst die, die diesen Befehl erteilen, werden im Grunde nicht wissen, warum sie das befehlen, denn sie befehlen es nur, weil es eine Kriegsordnung gibt, ein Kriegsgesetz, ein Standrecht, ein Sonderverfahren für sogenannte Feigheit vor dem Feind, unter das alles fällt, was nicht in den Kragen der Uniform ›Heldentum‹ paßt … die vollgeschissene Hose des vor Angst betenden und nach seiner Mutter schreienden Rekruten, der das erste Artilleriefeuer erlebt, bis zum Deserteur, der – ganz gleich aus welchen Gründen – nicht mehr mitmacht und die Truppe verläßt. Bei uns wie bei Ihnen wird das Sterben durch Paragraphen geregelt: Da steht genau in § 1 Absatz 3-5 oder §§ 45 bis 48 Absätze 3 und 8, wie Sie zu sterben haben und wie es strafbar ist, sich vor diesem Sterben zu schützen. Vor allem ist es verboten, zu denken. Kritisch zu denken. Anderes Denken, wie etwa: ›'ran an den Feind!‹ oder: ›Dieser Bunker muß noch geknackt werden!‹ ist erlaubt. Dieses Denken fällt unter das nationale Ethos des heldenhaften Kriegers. Das ist erwünscht, das wird im Wehrmachtsbericht genannt, dafür bekommt man Blechmarken in allen Größen und Farben und Formen, die man stolz Orden nennt. Geht man bei diesem heldenhaften Denken vor die Hunde – kleiner Lungenriß oder zerfetztes Becken oder aufgerissene Brust oder weggesägter Schädel oder eine nette Vollkörperlähmung durch einen Rückenmarkschuß –, dann hat man auch da schon einen Paragraphen, der einen verpflichtet, dieses alles in ›stolzer Trauer‹ zu tragen für den großdeutschen Gedanken des genialsten Führers der Deutschen … oder des Führers der Amerikaner, der Engländer, der Russen, der Franzosen … wir können ja früher oder später die Namen auswechseln wie in einem Wechselrahmen, denn jeder Krieg krankt geistig an der Unbeantwortbarkeit der Frage: Warum! Sehen Sie, lieber Kollege Bolton – deshalb sollten Sie nicht fragen. Sie werden keine Antwort bekommen, keine Antwort finden … Sie werden wie ich den Befehl ausführen und sagen: ›Es ist ein Befehl, und er belastet mich nicht seelisch. Ich bin nur ein ausführendes Organ, eine Maschine, bei der einer auf den Kontaktknopf drückt. Verantwortlich ist der andere, der befiehlt, der Konstrukteur der Maschine.‹ Aber selbst der wird eines Tages keine Antwort auf dieses Warum geben können.«
»Womit der vollkommene, geradezu unerschöpfliche Irrsinn des Menschen bewiesen ist.«
»Genau das! Ein Tier wird niemals etwas tun, was gegen seine Natur ist, es sei denn, es ist tollwütig. Ein Hase wird nie einen Elefanten angreifen, und ein Elefant wird nie einen Büffel jagen, um ihn zu fressen, denn er ist Pflanzenfresser! Nur der Mensch, der Homo sapiens, wie er sich vermessen nennt, lebt vier Fünftel seines Lebens gegen seine Natur. Er greift als Kaninchen den Löwen an und zertritt als Elefant einen Käfer … sinnlose Dinge, und er weiß nicht einmal, warum er das tut! Lieber Kollege Bolton – es ist verdammt schwer, da noch zu sagen: ›Ich bin stolz, ein Mensch zu sein!‹ Mir ist einmal der Gedanke gekommen, daß Gott den Menschen vielleicht nur aus einer Laune heraus geschaffen hat, aus der Laune, zu sehen, wie sich ein Wesen benimmt, das man mit einem 1.300 Gramm schweren Gehirn mit der Fähigkeit der Intelligenz ausstattet. Ich glaube, daß Gott diese Spielerei seiner Schöpferlaune längst bedauert hat, sie aber nicht rückgängig machen kann, denn er ist ein gütiger Gott, ein Vater, der auch ungeratene Kinder als seine Kinder ansieht.«
Dr. James Bolton schwieg. Er fand keine Antwort mehr, weil Dr. Pahlberg Gedanken aussprach, die er selbst empfunden hatte, als er in Massachusetts seinen Einberufungsbefehl in der Hand hielt. Er griff nach hinten, zog die verknotete Zeltplane mit den gesammelten Büchsen und Eßwaren der amerikanischen Sanitäter durch
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