Sie fielen vom Himmel
Süden.
Renate Wagner arbeitete still in ihrem Lazarett. Sie hatte ein Zimmer mit siebzehn Verwundeten, und sie nahmen ihre ganze Zeit in Anspruch, mit Spritzen, Nachtwachen, Verbinden und Essenausteilen. Von Dr. Pahlberg hatte sie nur einmal gehört … er schrieb ihr, daß er in Eboli angekommen sei und gleich wieder an den Operationstisch müsse. Kein Wort von dem Mann mit der zerrissenen Milz und der fehlenden Rillensonde, dem Zynismus Dr. Heitmanns und dem Beginn der höllischen Offensive. Sie ahnte nur, als die ersten Meldungen durchsickerten, in welcher Lage er sich befand. Aber sie gab es auf, weiterhin jemanden zu suchen, der sie mit nach Eboli nahm. Nach dem Abflauen der ersten Erregung sah sie die Unmöglichkeit ein, ja sie schüttelte jetzt selbst den Kopf über die Unsinnigkeit ihrer damaligen Bemühungen. Sie hatte sich entschlossen, in der Stille auf eine Gelegenheit hinzuwirken, in die Nähe Erichs zu kommen. Nicht gewaltsam, mit dem Kopf durch die Wand, sondern heimlich, mit der ganzen List eines weiblichen Gehirns, das Pläne und Möglichkeiten ersinnt, die jenseits des abstrakteren Denkens eines Mannes liegen. Sie tastete ihre Umgebung ab, sie verschloß sich vor keinem Umweg mehr, nachdem der gerade Weg versagt hatte, und bei diesen Bemühungen um einen Durchbruch durch die Mauer kriegsmäßiger Gesetze traf sie auf einen verwundeten Fallschirmjäger, auf den jungen Leutnant Horst Braun.
Er wurde ins Lazarett eingeliefert mit einem Unterschenkelschußbruch. Bei Salerno hatte man ihn geschient und dann nach Rom weitergeleitet. Als er im Lazarett eintraf, war die Wunde vollständig vereitert und brandig geworden. Es gab nur noch einen Weg, die bereits vorhandene Wundinfektion einzudämmen und Horst Braun zu retten: die sofortige Amputation des Beines.
Renate Wagner saß an seinem Bett und hielt ihm die fieberheiße Hand. Das Bein war dick angeschwollen, rot, und verpestete die Luft des Zimmers mit dem süßlich-scheußlichen Geruch des Eiters.
»Für Sie ist der Krieg zu Ende, Herr Leutnant«, sagte sie sanft. Sie legte einen in Wasser getränkten Lappen auf die heiße Stirn und lächelte ihn dabei an. – Horst Braun starrte sie aus weit aufgerissenen flackernden Augen an.
»Ich sterbe doch nicht, Schwester?« stieß er hervor. Er umklammerte die Hand Renates und zog sie zu sich heran. »Sagen Sie mir, daß ich nicht sterben muß! Ich habe solche Angst, Schwester … Ich friere … Vom Bein herauf friere ich … Es kriecht an mir hoch, Schwester … es geht bis ans Herz … Fühlen Sie es? Legen Sie doch die Hand drauf, Sie müssen es doch fühlen … es ist ganz kalt … ganz kalt …« Er klapperte mit den Zähnen, sein Unterkiefer war ein einziges Flattern. »Warum kommt denn kein Arzt … warum operiert man mich nicht?! Ich sterbe doch, Schwester … ich spüre es … Ich sehe es an Ihren Augen …« Plötzlich warf er den Kopf herum und weinte laut. Er schrie in die Kissen hinein und rief nach seiner Mutter. – Zwei Stunden später wurde sein Bein amputiert. Es wurde amputiert bis zum Becken … das ganze Gelenk schälte der Chirurg heraus. »Armer Kerl«, sagte er, als die Bahre hinausgetragen wurde. »Der kann nie eine Prothese tragen! Ein paar Stunden früher, und wir hätten nur den Unterschenkel amputiert!«
Als der Leutnant Horst Braun aus seiner Narkose erwachte, fiel sein Blick auf die Uniform, die seitlich von seinem Bett an einem Haken hing. Der grüne Ärmelstreifen mit der Silberstickerei ›Fallschirm-Jäger-Rgt.‹ leuchtete in der Herbstsonne, die warm durch die Fenster flutete. Über der Uniform hing der randlose Helm, unter der Uniform standen die Springerstiefel. Geputzt, matt glänzend. Zwei Schuhe … zwei … zwei..
»Nehmen Sie die Uniform weg, Schwester!« schrie Horst Braun. Er warf den Kopf zur Seite und sah auf seine Beine. Dort, wo das linke Bein liegen mußte, war die Decke flach, eingedrückt, vom rechten Bein her abfallend. »Die Uniform weg!« brüllte er. »Und die Schuhe, diese beiden Schuhe. Die schrecklichen Schuhe … die beiden … beiden …« Er schlug die Hände vor sein schmales, eingefallenes Gesicht und schluchzte.
Renate Wagner nahm die Uniform vom Haken, hängte den Helm am Kinnriemen über den Arm, ergriff die Springerschuhe und verließ mit ihnen schnell das Zimmer. Auf dem Flur zögerte sie plötzlich. Sie betrachtete die noch neue Uniform, das Band mit der Silberstickerei, den randlosen Helm. Es war, als bräche ein Deich in ihrem
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