Sie fielen vom Himmel
ruhig, mit jener Gelassenheit und Konzentration, die die Verantwortung, ein Menschenleben zu retten, mit sich bringt. Das verstärkte Artilleriefeuer, das in den Klostergarten hieb und eine schwere Bronzetür aus einer der Kapellen schleuderte, irritierte ihn nicht. Dr. Pahlberg empfand in diesen dicken Mauern, in diesem Fluidum einer jahrhundertealten Besinnung auf das Wesen des Menschen und seines Glaubens an den erlösenden Gott, eine ausströmende Kraft, die sein Inneres mit einem tiefen Frieden überzog. Die grausame Arbeit, die seine Hände verrichteten, die Verstümmelung, die er kunstgerecht vornahm, um das junge Leben vor sich zu retten, betrachtete er in diesen langsam dahintropfenden Minuten wie eine Gnade Gottes. Er sah auf den schlanken Körper der jungen Frau. Ihr Kopf mit den schwarzen Haaren war lehmgrau, seit Tagen ungewaschen, denn Wasser war ein Luxus, wenn 1.300 Menschen trinken wollten. Er dachte daran, daß sie tiefblaue Augen haben würde, und wie hübsch sie aussehen mußte, wenn sie sie aufschlug. Sie hatte sicher gerne geküßt, diese junge Frau … ihre Lippen waren auch jetzt noch wie ein rotes Herz. Nur war es ein fahles Rot mit einer rissigen, trockenen Haut.
Dr. Pahlberg sägte den Oberschenkelknochen durch. In dem blassen Fleisch des einstmals so schönen Beines blinkten die Wundhaken und Aderklemmen. Die zerrissene Schlagader hatte er zweimal abbinden müssen … sie war merkwürdig morsch und riß immer ein, wenn die Ligatur verknotet wurde. Der große Haut- und Muskellappen, der später über den Amputationsstumpf gezogen wurde, war emporgeklappt und mit einem Haken an dem Abdecktuch festgeklemmt.
»Halten Sie bitte das Bein fest«, sagte Pahlberg zu dem Mönch. Dann zog er die letzten Sägestriche durch den knirschenden Knochen und trennte das Bein durch.
Das Bein fiel in die Hand des Mönches. Fast ehrfürchtig trug er es zur Seite und legte es an die Wand der weißgetünchten Zelle, zu den Füßen des schmalen Bettisches. Während Dr. Pahlberg den großen Hautlappen über den schauerlichen Stumpf zog, dachte er daran, daß er der jungen Frau kein Tetanus geben konnte. Nicht einmal eine Morphiuminjektion, um ihr beim Erwachen aus der Äthernarkose die ersten rasenden Wundschmerzen etwas zu erleichtern. Sie wird auch eine Bluttransfusion brauchen, dachte er. Sie ist fast ausgeblutet. Das Herz flattert bereits. Doch woher Spenderblut nehmen? Woher?
Er vernähte den Stumpf und wickelte einige Lagen Zellstoff darum. Er trat von dem einfachen Holztisch zurück, tauchte die blutigen Hände in eine Schüssel mit warmem Wasser und nickte dem Mönch zu. Er öffnete die Tür, und zwei Fratres trugen die junge Frau aus dem Raum. Wohin, durchfuhr es Pahlberg. Wohin tragen sie sie jetzt? In die Kapelle, in die Sakristei? In einen der modrigen Keller? In eine Höhle? Er drehte sich um. Hinter ihm stand der Mönch, ein Handtuch in der Hand. Er trocknete sich die Hände ab und sah das amputierte Bein neben dem Bettisch. Es hatte noch die betörende Form eines Frauenbeines … enge Fesseln, eine leicht geschwungene, schöne Wade, ein schmales, rundes Knie und den Ansatz eines langen, schmalen Oberschenkels. Aber die Haut war gelb und tot.
»Ehrwürden möchte Sie noch sprechen«, sagte der Mönch mit seiner samtweichen Stimme.
Dr. Pahlberg ging durch Säulenhöfe, kletterte die Stufen in die modrigen Felsverliese hinab, zehn Meter unter die Erde in den Raum unter dem Kolleg, in dem der Erzabt mit seinen Mönchen hauste.
»Sie haben sie gerettet?« fragte Diamare. Er war in diesen Stunden der Not zusammengefallen … jetzt sah man ihm seine achtzig Jahre an, das Greisentum eines Patriarchen.
Dr. Pahlberg verneigte sich vor dem Abt. »Ich habe mein möglichstes getan, Ehrwürden. Weiter kann nur Gott helfen.«
»Gott!« Diamares Stimme zitterte. »Können Sie da draußen noch an Gott glauben? Können Sie es wirklich?«
Dr. Pahlberg sah in die flimmernden Augen des Greises. Es schien fast, als weine der Abt.
»Wie könnte ich auch nur einen Schnitt mit dem Skalpell tun, Ehrwürden«, sagte er, »wenn ich nicht an die Gnade Gottes glaubte. Woher nähme ich die Kraft, den von Gott gegebenen Leib des Menschen zu öffnen? Wenn ein Arzt, der über Gottes Schulter blickt, nicht an ihn glaubt – wer soll es dann?«
Diamare hob die zitternde Hand. »Überleben Sie die Hölle«, sagte er leise. »Sie werden Ihr weiteres Leben im Paradiese sein.«
Als Stabsarzt Dr. Pahlberg wie benommen aus dem
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