Sie haben mich verkauft
wollte nicht an Murat denken, aber es gelang mir nicht, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen. Immer wieder dachte ich an seine Stimme, die offenbar alle Wut in mir auflösen konnte, und an seine Berührungen, die so sanft waren, dass ich am liebsten geweint hätte. Irgendwie glaubte ich, dass ich ihm vertrauen konnte. Vielleicht sah er ja etwas anderes in mir. Vielleicht war ich gar nicht so wertlos, wie ich dachte.
»Fall bloß nicht darauf rein«, sagten die anderen Mädchen mir immer wieder. »Er ist nur ein Freier, und es wäre ganz schön blöd, wenn du etwas verschenkst, wofür du kassieren kannst.«
Aber irgendetwas in mir war wieder zum Leben erwacht. In der Vergangenheit war es sehr schwer für mich gewesen, mit meinen Ängsten und meiner Scham fertig zu werden, doch irgendwie hatte ich es geschafft. Jetzt begriff ich, dass das Herz weit stärker war, wenn es um Liebe und Zärtlichkeit ging, und es würde mir bestimmt gelingen, die schlechten Gefühle zu unterdrücken.
»Vielleicht ist das ja endlich deine Chance auf Glück«, flüsterte unablässig eine Stimme in mir. »Womöglich hilftMurat dir jetzt bei der Entscheidung, was du tun sollst, um endlich wieder mit deinen Kindern zusammen zu sein.«
Von ihm zu träumen war ein heller Fleck in der Dunkelheit, in der ich immer noch lebte. Ich mochte ja von Ardy weggelaufen sein – und allmählich glaubte ich daran, dass Naz recht hatte und er mich nicht verfolgen würde –, aber ich fühlte mich nach wie vor so allein und unsicher. Ich hatte immer gedacht, dass ich, wenn ich erst einmal von Ardy loskäme, mit meinen Kindern wiedervereint würde. Wäre ich frei, könnte ich tun und lassen, was ich wollte. Aber ich war so weit weg von Sascha, Pascha und Luda wie eh und je, und allmählich wurde mir die Tatsache bewusst, dass ich immer noch gefangen war. Ich hatte kein Geld, keine Papiere und außer Lara auch keine Freunde. Und wenn ich ohne Geld und Papiere nach Hause käme? Ich dachte mit Schrecken an das, was mich dort erwartete. Ich war überzeugt davon, dass Sergej mich suchte, und außerdem bestand immer die Gefahr, dass einer von denen, deren Weg ich gekreuzt hatte, mich aufspüren konnte: Sweta, Serdar oder Ardy. Aber am wahrscheinlichsten war, dass die Leute ahnten, was passiert und wozu ich gezwungen worden war. Frauen wie ich waren verhasst, ich würde Schande über meine Kinder bringen. Nie würde ich Arbeit finden oder genug verdienen, um meine Familie zu ernähren. Nein, ich konnte nicht mehr nach Hause. Es gab keine Zukunft für mich in der Ukraine.
Vielleicht konnte ich mich auf Dauer in England verstecken und die Kinder zu mir kommen lassen. Ich könnte mir einen falschen Pass kaufen, wie Ardy, einen neuen Namen annehmen und dann untertauchen. Ich hatte von Leuten gehört, die ihre Kinder illegal nach England brachten, und wenn ich Geld verdiente, würde ich einen Weg finden, das zu tun.
Wenigstens konnte ich jetzt mit meinen Lieblingen reden. Einmal in der Woche rief ich Sascha und Luda an und sprach mit ihnen über das, was sie gemacht hatten oder was in der Schule passierte. Und auch wenn es nur übers Telefon war, spürte ich doch, dass sich wieder eine Beziehung zwischen uns aufbaute. Sie wussten, dass ich ihre Mama war und dass ich sie liebte. Bei jedem Telefonat erzählte ich ihnen, wie lieb ich sie hatte und wie sehr ich sie vermisste und dass wir so bald wie möglich wieder zusammen sein würden. Die Küsschen, die sie mir durchs Telefon schickten, waren das Süßeste, was ich mir vorstellen konnte.
»Hallo, Oxana.«
Ich blickte auf. Es war Murat, sanft und freundlich sah er mich aus seinen braunen Augen an.
»Hallo«, erwiderte ich und gab mir Mühe, kühl zu klingen. Bleib auf Abstand, sagte ich mir. »Willst du das Übliche?«
»Nein, ich wollte dich fragen, ob du mit mir ausgehen willst.«
Ich starrte auf den Teppich und rief mir ins Gedächtnis, weshalb ich mich nicht wieder verletzen lassen wollte. »Ich weiß nicht ...«, sagte ich leise.
»Also, wann hast du frei? Morgen?«
»Ich denke schon«, antwortete ich gedehnt und spürte, wie meine Entschlossenheit ins Wanken geriet.
»Gut. Dann gehen wir morgen Abend essen. Ich ruf dich an und sag dir dann, wo wir uns treffen. Einverstanden?« Er lächelte mich an. Ablehnen konnte ich das nicht. Also nickte ich.
Vor unserem Treffen war ich so aufgeregt, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte. Murat führte mich in ein Restaurant, in dem er schon öfter gewesen war,
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